Im Jahre 1938 waren sehr magere Zeiten,
nicht nur in Italien, sondern überall: Grosse Armut und Arbeitslosigkeit.
Ich war im schönsten Alter
und zwar 18 Jahre alt. Eines Tages wurde in Oberitalien bekanntgegeben,
wer wollte könne nach Deutschland über den Sommer in der Landwirtschaft
arbeiten gehen. Der Hitler hätte es sehr begrüsst, denn so könne
er seine Leute gut gebrauchen in den Arsenalen, um Waffen in grossen Mengen
zu schmieden. Wir wussten natürlich nicht, dass er im Sinn hatte,
einen grossen Krieg zu führen, um die Welt zu erobern. Gottlob ist
es anders gekommen als er wollte.
Mein Bruder Giuseppe war 12 Jahre
älter als ich, sehr arbeitsam und hatte sich sofort gemeldet. Man
vernahm, dass auch Frauen gesucht wurden für die gleiche Arbeit. So
liess ich mich überreden, auch mitzufahren. Landwirtschaft war nicht
mein Beruf, aber in der Not und mit gutem Willen kann der Mensch auch anderes
machen, als was er gelernt hat.
Je näher der Tag der Abfahrt
kam, desto trauriger wurde ich, denn die Trennung von den Eltern fiel mir
sehr schwer. Ich weiss noch, wie die Mamma in der letzten Nacht vor der
Abreise mich in ihr Bett genommen hatte, mich umarmte, ihr Gesicht ganz
nass von bitteren Tränen und mich bat, auch im Ausland gut und brav
zu sein, wie ich zu hause immer gewesen bin. Auch ich gab ihr unter Tränen
mein Wort zu folgen und versprach ihr auch meinen Lohn, denn die Not zu
hause war gross. Sie bat auch meinen Bruder, mir den Vater zu ersetzen
in Germania, denn dazumal mit 18 Jahren war man noch nicht so weit wie
heute im selben Alter...
Der Tag der Abfahrt war gekommen,
Bekannte und Verwandte waren auf dem Bahnhof von Piacenza versammelt, um
Abschied zu nehmen, bis der Rauch der Lokomotive zum Himmel stieg und die
Räder langsam anrollten. Wir zogen die Fenster wieder nach oben, nahmen
unsere Plätze ein und wurden ganz still.
Die Reise war lang bis nach Norddeutschland,
denn die Züge fuhren noch mit Kohle. In München war der erste
Halt, da bekamen wir eine warme Reissuppe. Proviant hatten wir von zu hause
mitgenommen für den langen Weg, denn deutsches Geld hatten wir keines.
Endlich - mit verrussten Gesichtern und geschwollenen Beinen - kamen wir
in Lüneburg an.
Weil der Mussonlini und der Hitler
gute Freunde waren, hatte man uns sogar mit Musik empfangen. Auf einen
Lastwagen hatte man unser armseliges Reisegut aufgeladen und wir marschierten
in Reih und Glied durch die schöne Stadt. Die Musik vor uns blies
mit vollen Kehlen in die Strassen hinein und viele Menschen waren neugierig
auf die Italiener - vielleicht hatten sie noch keine Südländer
gesehen.
Dann kamen wir in einen grossen
Saal, dekoriert mit den Fahnen beider Länder. Dort bekamen wir als
Willkommensnachtessen ganz weichgekochte Spaghetti. Nach den grossen Reisestrapazen
waren sie trotzdem angenehm. Nachher nahmen wir voneinander Abschied, denn
wir waren Bauern zugeteilt, die schon auf uns warteten. Auch kamen Leute
in den Saal uns zu sehen, darunter auch ein schönes Fräulein
- sehr elegant gekleidet - und an ihrer Seite ein junger Offizier in Uniform.
Sie lächelte mich an - ich sie auch, dann gab sie mir zu verstehen,
dass sie Anneliese heisse. Dann wollte sie auch meinen Namen wissen. Da
sagte ich: "Io mi chiamo Bianca". Sie fand meinen Namen schön. Sie
zeigte mit den Fingern ihr Alter - 18 - und ich machte das gleiche. Sie
fuhr mit der Hand über meine Haare, sagte immer "schön", dann
war unsere Unterhaltung zu Ende. Aber sie ging noch nicht weg: Sie wartete
bis sie vernehmen konnte, zu wem wir zugeteilt wurden. Endlich kam es soweit,
dass sie unsere Adresse aufschreiben konnte. Dann ging sie mit ihrem stolzen
Offizier davon.
Es war schon Nacht geworden bis
wir unseren Herrschaften vorgestellt wurden. Der Herr Brammer war gross,
stramm, mit kahl rasiertem Kopf, um die vierzig Jahre alt - ein richtiger
Germane. Seine Frau auch gross, freundlich, schön und vornehm, sie
gefiel mir sehr. Er nahm unsere Koffer, verstaute sie in einem schwarzen
Mercedes und uns beide dazu. So fuhren wir in der tiefen Nacht durch die
lüneburger Heide bis Süttorf. Nach einer langen Fahrt waren wir
endlich am Ziel unserer Reise.
Die Wohnung bestand aus einer Küche
mit Kochherd auf dem Zementboden und der Stube mit einem Tisch, zwei Stühlen,
einem kleinen Schränkchen und einem Ofen. Im einen Schlafzimmer stand
ein Bett. Es waren Nägel in die Wände geschlagen zum Kleider
aufhängen.
Da kam das erste Problem auf: Wir
wollten nicht zusammen schlafen, da wir nicht ein Ehepaar waren sondern
Geschwister. Aber das verstanden sie nicht. Nachdem wir ihnen unsere unberingten
Hände zeigten gaben sie uns zu verstehen, dass noch ein kleines Zimmer
da sei und morgen würden sie für mich auch ein Bett bringen.
Ja, das Bett kam mit einem grossen Sack voll Stroh als Matratze, so wie
beim Bruder.
Nun waren wir in Deutschland und
der Giuseppe hiess nicht mehr so sondern Josef.
Das Problem mit dem Schlafen hatten
wir schnell gelöst, die Hälfte von dem Stroh aus dem Bett genommen
und in die Stube gegeben, wo der Josef darauf schlief.
Am andern Tag ging ich aus dem Haus,
um zu sehen, wo wir uns befanden. Da merkte ich, dass neben uns eine Familie
wohnte mit drei Kindern, die draussen am Spielen waren. Da ich noch drei
Orangen hatte, gab ich sie ihnen.
Sie betrachteten sie lange und dann
spielten sie Fussball damit. Sie wussten nicht, dass man sie essen kann.
Gegenüber stand ein kleines
Haus. Das galt als die Post. Eine ältere Frau führte sie. Es
hatte sogar einen Telegrafen. Sonst war da das kleine Dorf bestehend aus
ein paar Häusern, einem kleinen Laden und brammers Bauernhof, der
sehr gross war.
Den ersten Tag durften wir uns ausruhen.
Am morgen kam ein älterer Herr mit einem Korb in der Hand, worin sich
unser Proviant für die ganze Woche befand.
Es war sehr knapp aber so war es
im Vertrag geschrieben. Aber wir liessen deswegen den Kopf nicht hängen.
Der deutsche Boden war bekannt für gute Kartoffeln. Davon konnten
wir sicher satt werden. Der Herr war mittelgross, trug einen kleinen Oberlippenbart
und hatte ein feines Gesicht. Das liess vermuten, dass er der Vater Brammer
sei, denn reden miteinander konnten wir noch nicht.
Anfang April war es noch nicht so
warm wie bei uns daheim. Aber die Arbeit, die ich machen musste, hielt
mich schon warm: Ich musste in einen Schuppen, in dem viele gesägte
Tannenstämme lagen, die gespaltet sein mussten. Das war meine erste
Arbeit."Zehn Stunden täglich halte ich nicht aus", sagte ich zu meinem
Bruder. Am Abend hatte ich nicht mehr die Kraft zum Sprechen. Mir taten
meine Knochen so weh, dass ich in Weinen ausbrach und wieder nach Hause
wollte. Der Josef tröstete mich indem er sagte: "Nach ein paar Tagen
gewöhnt sich der Körper und man hat keine Schmerzen mehr. Wir
wollen uns nicht blamieren. Jetzt, wo wir hier sind, müssen wir aushalten.
Es wird auch wärmer werden, dann können wir im Freien arbeiten,
auf den Feldern. Es wird nicht so schwer sein wie jetzt."
Nach einer Woche kam schon ein Brief
von der Anneliese. Aber ich verstand kein Wort. Unser Nachbar versuchte,
mir zu erklären, was in dem Brief stand. Aber es war alles vergebens
für mich: Ich müsste mich an die Sprache gewöhnen, dann
könnte ich anfangen mit dem Lernen. Man hatte uns ein kleines Wörterbuch
gegeben, damit wir die fremde Sprache lernen konnten. Es blieb mir nur
Zeit in der Nacht. Es war nicht einfach, denn ich hatte kein Licht im Zimmer.
Die Leute, die mit mir arbeiteten gaben sich viel Mühe, mir die Sprache
beizubringen. Der Wille war gross und nach und nach lernte ich immer mehr
Wörter bis ich kleine Sätze bilden konnte. Die Leute fingen an,
Freude an mir zu haben, so dass ich mehr Freude auch am Leben hatte.
Am 1.Mai war Tag der Arbeiter. Da
wurde gefeiert und überall getanzt. Das war etwas für mich, denn
ich tanze sehr gerne. An dem Morgen kam die Postfrau mit dem lüneburger
Tageblatt. Voller Freude sagte sie, dass mein Name in der Zeitung stand.
Ich sah mir das an: Ja, auf der Titelseite war gross geschrieben "Bianca
lacht" und ein langer Bericht, den ich nicht lesen konnte.
Die gute Frau war enttäuscht,
denn sie merkte, dass ich mich nicht freute darüber. Ich sagte ihr:
"Mein Name ist Brigati, aber nicht Lacht", denn da wusste ich noch nicht,
was das Wort bedeutete. Auf dem Tanzboden wurde auf mich mit dem Finger
gezeigt: Die ist die Bianca. Da war mir nicht mehr wohl.
So bald ich nach Lüneburg fahren
konnte ging ich zum Dolmetscher Galeazzi, der mir alles erklärte,
worum es ging. Es war nur Gutes geschrieben über uns und dass Herr
Brammer sehr zufrieden war mit uns. Aber über unsere miserable Unterkunft
wurde nicht geschrieben. Die zwei Reporter, die uns besucht hatten auf
dem Feld bei der Arbeit, wussten ja nicht, wie wir wohnten. Das hätten
sie auch nicht geschrieben, denn unser Patron war bei der Partei NSDAP
gross geschrieben. Man musste Propaganda machen, dass die Italiener so
glücklich waren in Deutschland. Das sah man doch an der Bianca, wie
sie immer lachte.
Aber dass mein Herz weinte vor Heimweh,
das sah keiner.
Eine Arbeiterfamilie hatte Mitleid
mit uns und schenkte uns ein altes Grammophon mit einer ganz grossen Röhre
und ein paar Platten dazu. Der Josef spielte es gerne. Ihm gefiel am besten
"O Donna Clara ..."
Dann kam wieder ein Brief von der
Anneliese. Sie schrieb, wir sollten nach Lüneburg kommen. Ihre Eltern
möchten uns kennenlernen, es könne uns sicher jemand begleiten.
Ich gab den Brief wieder dem Nachbarn zum Lesen - er hiess Ludwig. Schlecht
und recht hatten wir verstanden, dass er uns am Sonntag mit dem Zug zu
der Anneliese begleiten wollte.
Ich freute mich, die schöne
Anneliese wiederzusehen und auch ihre Eltern. Der Tag war voller Sonne.
Die Athmosphäre in dem Zug war lustig. Der Ludwig sagte den Mitfahrern,
dass wir Italiener gut singen könnten. Da musste der Josef mit seiner
Tenorstimme das bekannte Lied "O sole mio" singen.
In der Stadt angelangt suchten wir
die angegebene Strasse, die auch gut zu finden war: "Am Sande" im
Zentrum von Lüneburg. Als wir in das vornehme Haus kamen, waren wir
nicht mehr lustig. Wir bekamen einer Art Panik, das Gefühl, dass wir
da nicht hineinpassten. Ein nettes Mädchen mit einer kleinen Schürze
um die Taille nahm uns in Empfang. Der Ludwig sprach für uns, sagte
ihr, wer wir seien und sie ging uns melden. Nach einer kleinen Weile kam
die Frau Klingner an die Türe und hiess uns herein kommen. Sie war
sehr freundlich und der Vater von der Anneliese auch. Ich schätzte
sie ungefähr um die 50 Jahre alt. Ich war ganz unruhig, denn von der
Anneliese war noch nichts zu sehen. Nach einer Weile kam ein grosses Fräulein
herein, fein und schön, aber ich kannte sie nicht.
Der Bruder schaute mich ängstlich
an und meinte, wir seien sicher am falschen Ort, das sei nicht sie, die
wir gesehen hätten am Abend unserer Ankunft. Aber wir schwiegen, denn
wir konnten kein Deutsch. Endlich kam die Anneliese herein.
Da schlug mein Herz ganz anders.
Der Ludwig hatte uns doch zum richtigen Ort geführt.
Wir wurden gross bewirtet mit aller
Herzlichkeit. Anneliese und ihre Schwester Henny nahmen mich mit in die
Stadt. Dort war an dem Tag der grosse Jahrmarkt.
Es waren viele Buden und Stände
und an einem Stand mit Süssigkeiten kauften sie mir ein grosses Herz
aus Kuchen mit einem roten Samtbändel daran und hängten es mir
um den Hals, sicher als Zeichen der Liebe oder Sympathie zu mir. Der Ludwig
und der Josef gingen mit dem Schatz Anneliese die Kasernen von Lüneburg
besichtigen, weil sie vernommen hatten, dass auch der Josef 18 Monate lang
Soldat in der Artillerie in Italien gewesen sei.
Der Abend kam und wir mussten Abschied
nehmen von den lieben Leuten. Anneliese brachte uns mit einer dunkelgrünen
Limousine zum Bahnhof und sagte, dass sie uns einmal in Süttorf besuchen
würde mit der ganzen Familie.
Die Heimreise war nicht mehr so
lustig, denn wir waren noch sehr benommen von dem Erlebnis in der guten
Familie. Die Leute gaben mir auch warme Kleider in der Meinung, dass ich
nicht erkranken sollte. Dort war das Klima rauher als bei uns in der Po-Ebene.
Die Fürsorge, die sie für mich hatten, werde ich nicht mehr vergessen
so lange ich zu leben habe. Zwar wird das auch nicht mehr so lange sein,
denn anfangs 2000 werde ich 80 Jahre alt.
Ich muss schon sagen, dass mir dort
nur gute Leute begegnet sind. Auch Familie Brammer war nicht schlecht zu
uns. Sie waren gewohnt, Distanz zu halten gegenüber den Arbeitern,
es war so in der ganzen Welt: Der Arme immer unterdrückt. Das sollte
jeder Emigrant wissen. Andere Länder haben andere Sitten, andere Gewohnheiten
und das muss man respektieren. So kommt man am besten vorwärts.
Die Zeit verging. Das Wetter besserte
sich, es wurde wärmer im Lande und wir konnten auf die Felder arbeiten
gehn. Der Josef war unermüdlich. Gewisse Arbeiten nahmen wir im Akkord
auf, damit wir ein paar Mark mehr verdienen konnten. Das ging nicht nur
bis 19 Uhr, sondern bis es dunkel wurde.
Unser Nachbar hatte es nicht versäumt,
Herrn Klingner zu erzählen, dass wir sehr primitiv wohnen mussten
und ich nicht einmal Licht hatte in meinem Zimmer. Annelieses Vater besass
ein Elektro-Unternehmen und eines Tages kam er nach Süttorf und installierte
Licht in meinem Zimmer - sogar eine Nachttischlampe. Da ich keinen Nachttisch
hatte, machte ich mir einen aus alten Backsteinen. Wie war ich glücklich
- so konnte ich in der Nacht Deutsch lernen.
Langsam verging auch der Sommer.
Im November ging der Werkvertrag zu Ende, wir hätten nach Hause können,
aber unser Patron überredete uns, auch im Winter zu bleiben. Er sorgte
schon dafür, dass unser Vertrag verlängert wurde!
Er konnte das schon machen, er war
ja in der Partei! Wir überlegten uns, dass es nicht rentierte, sechs
Monate in Italien ohne Arbeit zu sein. Bis dahin hätten wir unseren
Verdienst verbraucht und mussten von vorne wieder anfangen. So waren wir
geblieben unter der Bedingung, nicht mehr Holz spalten zu müssen.
In den Scheunen war genug Roggen
aufgestapelt zum Dreschen, Säcke zum Flicken und sonst allerlei zu
machen.
Wie gesagt, anfangs November sammelten
sich unsere Kameraden wieder in Lüneburg zur Abfahrt in die Heimat.
In dem grossen Saal wurde gegessen und getanzt, geredet auch, denn jeder
wollte seine Erlebnisse preisgeben. Eine Dame spielte Klavier. Sie fragte
mich, ob ich etwas singen könnte. Da ich schon so gut Deutsch gelernt
hatte in den sieben Monaten Aufenthalt in Süttorf hatte ich den neuesten
Schlager auswendig gelernt: Fahre mich in die Ferne mein blonder Matrose.
Der Beifall war gross und viele kleine Geschenke hat man mir gegeben.
Das war für mich ein Trost,
damit der Abschied von den anderen nicht mehr so schwer fallen sollte.
Sie fuhren wieder in die Heimat und wir blieben zurück.
Der Winter kam und es wurde sehr
kalt im Land. Aber ich hatte mir einen warmen Mantel gekauft und gute Sportschuhe.
Dazumal waren Stiefel noch nicht "in" für Frauen. Weihnachten kam,
ich wurde eingeladen bei der Familie Klingner, wo ich auch beschenkt wurde.
Der Josef wollte lieber zu Hause bleiben: Er war dem Grammophon treu.
Wohl oder übel überstanden
wir auch den Winter ohne krank zu werden. Ich muss schon sagen, dass wir
trotz allem eine starke Natur hatten. Der Sommer ging auch so wie immer
vorbei, die Kartoffelernte war das Schwerste, aber da kamen die Soldaten
des Arbeitsdienstes zu Hilfe. Die Bäuerinnen gaben sich wohl Mühe,
brachten jeden Nachmittag Wäschekörbe voller Kuchen aufs Feld,
worauf ich mich immer freute. Auch wir arbeiteten schwer - sogar im Akkord
- aber ausser unseren kargen Portionen gabs nie etwas extra, denn die regierende
Mutter Brammer war sehr geizig.
Im September 1939 gab es eine grosse
Überraschung: Der Krieg war ausgebrochen, der Hitler hatte sich Polen
genommen. Es hiess Polen-Korridor. Das war ein kurzer Kampf: 17 Tage hatte
die Schlacht gedauert. Kein Wunder, was hätte Polen so unverhofft
gegen ein deutsches Reich machen können.
Das grosse Elend fing an: Der Führer
wusste, dass sich in Polen die meisten Juden aufhielten und sein Ziel war
von Anfang an, dieses Volk zu vernichten. Die Vernichtungslager waren schon
vorbereitet sowie die Gasöfen, Verbrennungsanlagen und anderen undenkbar
verbrecherischen Methoden. So dachte er, die könnten ihm nicht mehr
gefährlich werden.
Er fühlte sich so mächtig,
dass er nach kurzer Zeit - ohne Kriegserklärung - ein Land nach dem
anderen in seine Gewalt nahm. Zwei polnische Gefangene wurden auch dem
Herrn Brammer zugeteilt. Das passte uns, denn wir hatten im Sinn, die Arbeitsstelle
zu wechseln. Wir hatten dafür keine anderen Gründe, als zu einem
Bauern zu kommen, bei dem wir nicht mehr selber Kochen mussten.
Das Arbeitsamt hatte uns eine Stelle
gefunden in der Nähe von Lüneburg bei Herrn Fritz Gellermann
in Dachmissen.
Unser Chef liess uns nicht gerne
gehen, anderseits konnte er es uns nicht verbieten. Unser Vertrag ging
im November zu Ende und wir arbeiteten bis zum letzten Tag. Die Trennung
von dem guten Ludwig und seiner Familie fiel mir sehr schwer. Sie waren
gute Kameraden geworden, aber sie begriffen auch unsere Situation.
Unsere zwei Koffer waren wieder
unsere treuen Begleiter, unser Verdienst war nicht schwer zu tragen, denn
wir hatten unseren Lohn immer nach Hause geschickt.
In Lüneburg wartete unser neuer
Chef mit Ross und Wagen. Es war aber allerlei auf dem Vehikel. Mit Mühe
und Not konnten wir darauf sitzen. Der Bauer war nicht allein gekommen:
Er hatte einen schönen jungen Mann mitgenommen. Er wurde uns vorgestellt
als Paul, der Melker. Er war grösser als ich, denn ich war 167 cm
gross, sein schöner Haarschnitt gefiel mir und seine rosaroten Wangen
auch. Er schien so gesund. Ich schätzte ihn um die 26-27 Jahre alt
- ich war 20. Unterwegs sprachen wir viel miteinander. So gefiel er mir
immer besser, aber dass er eines Tages mein Mann werden sollte, sowas dachte
ich noch nicht.
Angekommen, wurden wir freundlich
von der Bäuerin begrüsst. Sie war mir sofort symphatisch. Sie
hatte schon graues Haar, aber noch junge Kinder. Deshalb war sie sicher
nicht viel älter als 40. Ich hatte nicht viel Mühe, mich anzupassen,
denn mein Herz war voller Liebe für den Nächsten. Die Arbeit
war so schwer wie vorher, aber Holz spalten musste ich nicht mehr.
Das Schlafzimmer war nicht leid.
Das Bett war nicht mehr mit Stroh gefüllt. Licht war vorhanden, ein
Schrank für Kleider auch, nur das Fenster durfte nicht lange offenbleiben,
denn gerade davor lagerte der Kuhstall-Mist. Das Zimmer wurde nur mit einer
dünnen Wand vom Kuhstall getrennt.
Die Zeit verging. Inzwischen durften
wir 4 Wochen nach Hause. Es war ein grosses Ereignis, wieder in der Heimat
zu sein.
Mit der Zeit verbreitete sich der
Krieg immer mehr. Mein anderer Bruder Luigi war nicht mehr zu Hause. Er
war eingezogen worden als Soldat nach Afrika. Was der Duce dort wollte
weiss ich heute noch nicht, nur dass viele ihr Leben in der Wüste
lassen mussten und die anderen halb krank und verdurstet zurückkamen,
während Afrika blieb wie es war.
Hitler schickte auch den General
Rommel mit seinen Truppen dorthin. Die deutschen Soldaten waren bekannt
als gute Krieger. Doch nach etlichen Verlusten kamen auch nicht mehr alle
zurück. Der General Rommel kam zurück, musste aber sterben wegen
der Niederlage. In Europa ging es nicht mehr so gut: Die Feinde kamen immer
öfter in der Nacht, ihre Bomben vom Himmel herabzulassen.
Die Angst in der Bevölkerung
stieg, aber man durfte es nicht zeigen. Sonst wäre es nicht gut gewesen.
Man durfte auch nicht mehr mit dem "Guten Tag" grüssen, es galt nur
noch "Heil Hitler". Wehe dem, wenn nicht. Ja, er verstand es, sich fürchten
zu lassen, denn er drohte für jedes krumme Wort gegen ihn mit dem
Tod. Er machte das nicht selber, nein, nein. Dafür sorgte die Gestapo
- und dass die Vernichtungslager nie leer wurden!
Es war nicht nur Auschwitz der Mittelpunkt
der Vernichtung. Es allein hätte nie schaffen können, so viele
Menschen zu töten. Es ging in die Millionen: Alt, jung, gross und
klein ohne Urteil.
Dazumal wussten wir noch nichts
von alledem. Wir hatten kein Radio und es war auch verboten: Man durfte
nur die Siege vernehmen, denn die Leute durften auch nicht reden darüber.
Jeder hatte Angst davor, vom anderen angezeigt zu werden.
Eine gute Frau vom Dorf bot mir
italienisches Brot an - es war 1944 - und ich fragte sie, wo sie das her
hatte. Da fing sie an zu zittern: Ich sollte sie ja nicht verraten, sie
habe zwei kleine Kinder. Ich gab ihr mein Wort zu schweigen, aber ich verstand
immer noch nicht, um was es ging. Endlich sagte sie mir, dass ihr Mann
bei der Bahn arbeite und mit den Zügen voller Juden nach Auschwitz
fahre und diese gäben ihr letztes Stück Brot, wenn er dem Einen
oder Anderen zur Flucht verhelfe. Ich - ganz unwissend - fragte, was die
dort wollten. Sie sagte mir: "Sie müssen, sie werden mit Gewalt dorthin
gebracht und kommen nicht mehr zurück." Ich fragte, ob alle aus Italien
kämen. "Nein", sagte sie, "von allen Ländern und nicht alle Züge
fahren an den gleichen Ort. Es gibt viele solche Lager im Reich Deutschland."
Nach diesem Schreck wollte ich das
Brot auch nicht mehr. Sie sollte ihre Kinder sättigen damit.
Zurück zu mir: 1942 haben wir
doch geheiratet, der Paul und ich. Mein Bruder Josef gab seine Einwilligung,
denn er fand, dass er der richtige Mann für mich sein könnte.
Ich fand ihn auch einen ganz feinen Menschen, aber die Angst, dass auch
er in den Krieg eingezogen würde, war immer in mir. Er aber war der
festen Meinung, seine Kühe nicht verlassen zu müssen, denn die
Milch war sehr wichtig für die Bevölkerung.
Es ging lange, bis wir die nötigen
Papiere bekamen. Die Behörden wollten genau wissen, ob wir die arische
Abstammung hätten. Beide hatten wir den katholischen Glauben.
Die Bauern schmückten eine
Droschke mit grünen Tannenästen und – zwei stolze Pferde davor
- fuhren wir in Begleitung von Bruder Josef und Schwester Emma nach Lüneburg
in die katholische Kirche zur Trauung. Der Josef durfte nicht weinen -
er war ja ein Mann, aber die Emma konnte die Tränen nicht verbergen.
Sie verlor mich nicht gerne. Deshalb kam sie auch zu unserem Bauern: Um
in meiner Nähe zu sein. Ich war 18 Monate jünger als sie und
doch ihre führende Hand. Da sie Schneiderin war, hatte sie mir ein
schönes Hochzeitskleid gemacht, alles von Hand, denn Maschinen hatten
wir keine.
Zum Feiern reichten die Lebensmittel
nicht, um lustig zu sein war die Zeit nicht geeignet. Zwei Neffen von Paul
waren schon gefallen und andere schwer verwundet. Viel Trauer war schon
in der Verwandtschaft von meinem Mann.
Man hatte uns zehn Tage Urlaub gegeben
und so machten wir die Hochzeitsreise nach Berlin zu der Schwester Rosa
vom Paul. Die erste Nacht verbrachten wir in einem Keller, da die feindlichen
Flieger mit ihren Bomben wüteten über der Hauptstadt Deutschlands.
Die restlichen Tage hatten wir Ruhe. So zeigte mir mein Mann die schöne
Stadt: Da war sie noch nicht in den Boden gestampft. Ich fand sie sehr
schön.
Die paar Tage vergingen sehr schnell
und wir kamen mit dem Zug wieder zurück nach Dachmissen. Wie gewohnt
nahmen wir unsere Arbeit wieder auf. Wohnung hatten wir keine, Möbel
auch nicht. Sowas gabs nicht mehr zu kaufen. Aber unsere Liebe konnte niemand
verbieten.
Meine Schwester war nicht so stark
für die Arbeit auf dem Land, so ging sie nach Lüneburg als Schneiderin
in ein grosses Geschäft. Der Krieg verbreitete sich immer mehr und
damit wurden auch mehr Männer eingezogen, so dass die Angst in uns
von Tag zu Tag stärker wurde bis eines Tages der Befehl kam und auch
mein Paul in den Kampf musste wie alle andern.
Er kam aus Oberschlesien und dort
sollte ich hin: Er wollte nicht mehr, dass ich so schwer arbeiten musste.
Sein Bruder hatte mich aufgenommen in seiner Gärtnerei als Gehilfin.
Dafür gab er mir ein Dachzimmer als Unterkunft.
Herzzerreissend war der Abschied
von allen meinen lieben Leuten. Ich fuhr alleine nach Oberschlesien. Mein
Ziel war Oppeln an der Oder.
Eine Nichte von meinem Mann wartete
auf dem Bahnhof auf mich. Sie stand oben auf der Ausgangstreppe. Ich kannte
sie nicht, sie mich auch nicht, aber ich dachte sofort: "Das ist sie!"
Ich wollte sie ansprechen, aber sie liess mich nicht reden, denn sie wartete
auf eine kleine Italienerin mit schwarzen Haaren. "Dann heissen Sie Trudi"
sagte ich. Sie vergass den Mund zuzumachen. Ich war grösser und hatte
braunes Haar. Die anderen Verwandten warteten im Wartesaal auf mich. Die
Begrüssung war herzlich, dann sprachen sie polnisch miteinander und
gingen ihrer Wege. Der Schwager Johann nahm meinen Koffer und wir gingen
ein paar Kilometer zu Fuss bis zu dem Dorf, wo er wohnte. Die Gegend war
mir fremd, die Leute auch. Ich kam mir so verloren vor: Wenn ich ein Vogel
gewesen wäre, hätte ich die Flügel ausgespannt und wäre
sofort davongeflogen.
Es hatte geheissen, so lange ich
keine Gelegenheit hatte zum Kochen sollte ich bei ihnen essen. Nach zwei
Tagen sagte mir die Schwägerin, von nun an sollte ich alleine essen,
denn ihre Kinder fühlten sich nicht wohl in meiner Anwesenheit. Wenn
ich sie etwas fragte, gaben sie mir immer schnippische Antworten. Kurz
und gut, sie mochten mich nicht - von Anfang an.
War sie vielleicht eifersüchtig?
Ich hatte ihr nie Anlass gegeben dazu, mir hatte man nie etwas anvertraut,
auch nicht, dass sie ein Kind erwarte. Da sie immer weite polnische Trachten
trug, bemerkte ich nie etwas. Nach neun Monaten, an einem schönen
Morgen, schickte man mich mit ihrer kleinen Tochter aus dem Haus zum Spielen.
Das war das erste Mal, dass die 5jährige Anna mit mir gehen durfte.
Wir blieben nicht weit vom Haus bis man uns rief.
Man präsentierte uns das kleine
Wesen in einem Kissen. Ich war so überrascht, dass ich kein Wort sagen
konnte. Ich ging in mein Zimmer und weinte lange, denn ich war sehr beleidigt.
Ich fühlte mich zurückgesetzt, wie ein Kind. Ich wusste, dass
sie sehr traurige Zeiten hinter sich hatten, weil ihr erster Sohn im Krieg
gefallen war. Er war als Matrose auf dem grossen Schiff "Bismarck". In
5tägigem Kampf gegen die Engländer wurde es zusammen mit der
ganzen Besatzung versenkt. Deswegen hatte ich immer alles verziehen.
Mein Paul schrieb jede Woche ununterbrochen.
Ich vernahm, dass er bei den Pionieren zugeteilt wurde und 6 Monate ausbildungshalber
in Norddeutschland blieb. Später kam er mit den anderen Soldaten nach
Dänemark. Der Krieg wucherte immer weiter, an ein Ende war nicht zu
denken.
Meine Schwester wollte zu mir ziehen,
alleine kam sie nicht zurecht. Aber vorher kam mein Mann 10 Tage in Urlaub.
Wie war es schön, mal wieder zusammen zu sein. Leider vergingen diese
Tage viel zu schnell. Wir wurden von allen seinen Schwestern eingeladen,
sogar die Schwägerin zeigte ihre beste Seite. Ich war sprachlos. Der
Tag kam, wo er wieder gehen musste. Wir waren beide sehr traurig. Ich begleitete
ihn bis zum Bahnhof in Oppeln. Unterwegs blieb er stehen. Er glaubte, Klebstoff
unter den Schuhen zu haben. Seine Füsse wollten nicht weiter. Ob er
schon ahnte, dass er nie mehr zurückkommen würde?
Auf dem Bahnhof angekommen mussten
wir nicht lange warten: Der Zug kam und war so voll von Soldaten, dass
Paul nicht in den Wagen hinein konnte. Er hielt sich an der Türstange
fest und winkte mir mit der freien Hand zu bis der Zug um die Kurve verschwand.
Von da an hatte ich ihn nie mehr gesehen.
Es ging nicht lange bis der erste
Brief kam. Es tröstete mich sehr, seine Zeilen wieder zu lesen. Er
schrieb, dass ich mir nicht grosse Sorgen machen sollte. Solange er in
Dänemark bleiben konnte bestand keine Gefahr.
Eines Tages bekam ich einen Brief
von einem Unbekannten woraus ich erfuhr, dass mein Bruder Luigi in einem
kleinen Dorf bei Leipzig in deutscher Gefangenschaft sei. Ich war sehr
betroffen von dieser schlechten Nachricht. Derjenige schrieb auch, dass
er schwer arbeiten musste in einer Zuckerrübenfabrik und am Ende seiner
Kräfte war aus Mangel an Ernährung.
Die Schwester und ich kratzten alles
zusammen was wir konnten: Lebensmittel und warme Kleider. Der Zug brachte
uns bis Leipzig. Dann mussten wir noch lange Laufen bis zu dem Lager. Es
wurde Abend bis wir ankamen und die Gefangenen fassten gerade ihr Nachtessen,
bestehend aus drei gekochten Kartoffeln in einer Büchse. Wir weinten
alle drei auf unser Wiedersehen. Ich hätte nie geglaubt, dass die
beiden Länder Feinde würden. Mit der Zeit hatte der Mussolini
eingesehen, dass die Methoden von Hitler gegen die Menschheit zu grausam
waren.
Es könnte auch sein, dass politische
Gründe schuld daran waren, dass die Freundschaft der beiden auseinanderging.
Ich war noch zu jung, um die politische Situation zu verstehen. Ich verstand
nur, dass das grosse Elend immer grösser wurde.
Am Ende des Krieges wurden die Gefangenen
entlassen. Der Luigi konnte wieder nach hause. Er war seelisch sehr krank
geworden, er wurde sehr depressiv. Dazumal gab es auch keine Mittel dagegen,
so dass er nach ein paar Jahren starb.
Die Deutschen bombardierten Italien
der Wette nach, die Engländer bombten Deutschland zu Boden. Es fehlte
gerade noch, dass Hitler Russland holen wollte. Das sah auch ein Laie,
dass man von Sieg nicht mehr reden konnte. Aber der Führer war sicher
im Geheimen zufrieden, dass seine Soldaten bis Leningrad vorstossen konnten.
Nach grossen Kämpfen und vielen Toten brachten es die Engländer
fertig in der Normandie zu landen, so dass sie durch Frankreich vorstossen
konnten. Hitler konnte nicht mehr Leute einziehen, denn die 14jährigen
Kinder waren auch schon zur Hilfe des Sieges eingezogen worden.
Ein Neffe meines Mannes durfte von
der Ostfront nach Hause, weil er nur noch ein Bein hatte. Er war 22 Jahre
alt. Ja was der Alfons erzählen konnte, da standen einem die Haare
zu Berge. Er sagte auch, dass die vielen Toten nicht alle im Kampf gefallen
seien, sondern auch in der russischen Kälte erfroren.
Man vernahm, dass die Generäle
Hitler Meldung machten, sich zu ergeben, denn der Nachschub klappte nicht
mehr, die Verwundeten konnten nicht mehr versorgt werden wegen Mangel an
Medikamenten und Verbandstoffen und die Lebensmittel wurden knapper von
Tag zu Tag. Aber der Führer gab Meldung zurück, dass man weiterkämpfen
sollte bis auf den letzten Mann. Er konnte gut reden, denn er war nicht
dabei. Er hielt sich gerne in Sicherheit in der warmen Stube auf und träumte
sicher immer noch von dem grossen Sieg, auf Kosten von Deutschlands Volk.
Er beweinte sicher nicht die vielen Mütter, deren Söhne nie wieder
zurück kamen, die vielen Frauen, deren Männer auf den Schlachtfeldern
fielen und die mit ihren Kindern sehen mussten, wie es weiter gehen konnte.
Auch ich wurde eine der Frauen,
die weinte über den Tod meines Mannes.
Plötzlich brachen die Russen
durch die höllische Front und kamen Richtung Westen. Wir Frauen mussten
drei Mal in der Woche Laufgräben ausschachten, auch Gräben gegen
die Panzer. Die mussten viel breiter und tiefer sein. Zwei SS-Männer
mit grossen Hunden bewachten uns, denn es sollte schnell gehen, weil die
Russen schon gegen Polen zogen. Es war 1944, die Lage wurde immer schlechter.
Die Lebensmittelzuteilung nahm immer mehr ab. Ich hatte vernommen, dass
es irgendwo eine an Obst reiche Gegend gäbe, aber man musste mit dem
Zug fahren.
Meine Schwester und ich machten
uns auf den Weg. In dem Dorf angelangt klopften wir jedes Haus ab. Überall
die gleiche Anrwort, es kämen so viele Leute jeden Tag zum Betteln,
dass sie nichts mehr geben könnten. Ich gab nicht auf, die Emma konnte
nicht mehr weiter. Sie setzte sich unter einen grossen Nussbaum am Strassenrand
und sagte, dass ich weiter probieren könne. Sie hätte nicht mehr
die Courage dazu. So ging ich zu einer Bauernfamilie. Dort ertönte
wieder das gleiche Lied: "Wir haben auch nichts mehr." Ich gab noch nicht
auf, fragte ganz bescheiden, ob sie auch nichts hätten für die
arme Italienerin, die ganz erschöpft unter dem Nussbaum liege. "Sofort
her mit ihr" sagte der Bauer. Ich ging sie holen in der Hoffnung, dass
sie mehr Glück hätte als ich. Wie wir beide zurückkamen
lag eine italienische Landkarte auf dem Tisch ausgebreitet. Wir mussten
ihnen zeigen, wo wir herkamen. Bei Parma, sagte die Bäuerin unter
Tränen, sei ihr Sohn als Soldat begraben und wenn wir versprächen,
einmal sein Grab aufzusuchen und ein paar Blumen darauf zu legen, wären
sie uns sehr dankbar. Ja, wir gaben ihnen das Wort.
Aber es dauerte noch lange, bis
wir nach Italien zurück konnten. Wie wir uns von ihnen verabschiedet
hatten, waren unsere Hände nicht mehr so leer wie als wir gekommen
waren: Sie gaben uns eine ganze Henne, Eier, Butter, Mehl und vieles mehr.
Wir sollten auch nicht mehr auf den gleichen Bahnhof gehen, denn dort waren
Wachen aufgestellt, die uns alles weggenommen hätten. So mussten wir
über Wiesen und Felder gehen zu einer anderen Station, um auf den
Zug zu steigen, der uns nach Hause brachte.
Wir hatten die guten Leute nicht
vergessen, aber bis wir nach Italien konnten vergingen noch zwei Jahre.
In der Zeit passierte noch viel: In der Nacht waren wir nirgends sicher,
die Engländer avancierten in Frankreich, mehr noch die Russen in Polen.
So wurde Deutschland von allen Seiten bombardiert. Wir mussten die Hölle
aushalten und schweigen.
Im Sommer 1944 schrieb mir ein Verwandter
aus Auschwitz, er wäre dort als Maurer. Er war weder Gefangener noch
frei. Aber jetzt wollte er nach Hause zu seiner Familie, denn er konnte
das unmenschliche Geschehen nicht mehr ansehen.
Ohne von alledem zu wissen machte
ich mich an einem Sonntag auf den Weg dorthin. Von Oppeln aus mit dem Zug
war es gar nicht sehr weit. Auf dem Bahnhof kaufte ich eine Fahrkarte nach
Auschwitz und zurück und erwähnte dabei, dass ich am Abend wieder
zurückkommen wollte. Der Bahnbeamte schaute sich um ob niemand zuhören
könne, dann sagte er: "Sie sind viel zu schade für dort hin."
Ich begriff immer noch nicht, was er meinte.
In Auschwitz angekommen musste ich
in einen Bus, der auch beim Lager 7 anhielt. Dort konnte ich aussteigen.
Während der Fahrt bekam ich ein furchtbares Bild zu sehen: Eine lange
Kolonne in gestreiften Kleidern mit kahl rasierten Köpfen ging durch
die Strassen, getrieben wie die Schafe von uniformierten Männern mit
Waffen und Gummiknüppeln. Wenn einer nicht mehr Schritt halten konnte
und zu Boden fiel, wurde er gepeitscht, bis er gar nicht mehr aufstehen
konnte. Dann wurden zwei andere gepeitscht, die ihn mitschleifen wollten
und dieser Barbar in der braunen Uniform mit dem Hakenkreuz auf dem Ärmel
zeigte noch seinen Stolz darüber, dass er sowas vollbrachte. Die Kolonne
sollte die ganze Breite der Strasse benutzen, damit der Bus hinterherfahren
musste. So konnten die Fahrgäste zuschauen, wie der mit den armen
Menschen umging. Ab und zu schlug er die Peitsche gegen seine blanken Stiefel,
damit die gestreiften Silhouetten ja nicht vergässen, dass er seine
Peitsche noch benützen wollte.
Plötzlich kam mir der Mann
auf dem Bahnhof von Oppeln in den Sinn, wie er sagte, "das sehen wir dann
noch, ob Sie am Abend wieder zurück kommen". Aber er durfte mich nicht
warnen, ich hätte ja eine Agentin sein können. Es wäre für
ihn nicht gut gewesen.
Gedacht hatte er ganz sicher, dass
die anderen mit Gewalt nach Auschwitz mussten - "und sie geht freiwillig
in den Rachen des Löwen!" Ich traute meinen Augen nicht mehr, meine
Beine zitterten. Einen Moment lang glaubte ich auch, mein Herz bleibe stehen.
Der Bus hielt an, ich durfte aussteigen vor dem Lager 7. Eine Wache stand
davor.
Ich fragte freundlich nach dem Nino
Pancini und ob ich zu ihm dürfe. Er stellte mir viele Fragen. Unter
anderem vernahm er, dass ich jetzt auch eine deutsche Frau sei und mein
Mann sei an der Front und kämpfe für den Sieg. Ich ging mit dieser
Methode vor, damit er weich werde: Das hatte auch geklappt, denn er ging
den Nino holen.
Ich hatte zwar nicht gelogen, aber
dass mein Mann gerne für den Sieg kämpfte war gar nicht der Fall,
denn er war sehr gegen die Massaker, die der Hitler veranlasste. Jeder
vernünftige Mensch sah, dass der Führer ein grosser Fanatiker
war: Einer ohne Studium, der seine Träume in Wahrheit verwandelte,
indem er das deutsche Volk im richtigen Moment verblendete mit seinen Versprechungen.
Im Jahre 1938 waren die deutschen
Arbeiter gerade so arm wie überall. Für Hitler war es sehr günstig,
sich an seinen Paraden bejubeln zu lassen...
Also der Nino kam durften wir das
Lager 7 verlassen. Das erste, was er mir zeigen wollte war das neue Lager
"Herman Göring", das noch nicht ganz fertiggestellt war. Ich sah ganz
dicke Mauern, kleine Eingänge, aber kein Dach. Ich fragte: "Wozu soll
das dienen?" Die Antwort lautete: "Für wilde Tiere aus den zoologischen
Gärten: Damit sie nicht verhungern müssen, werden sie mit lebendigen
Menschen gefüttert."
Ich schäme mich, das niederzuschreiben.
Ich sagte zum Nino: "Du hast mich herkommen lassen, um solch furchtbare
Sachen zu sehen?" Er meinte, dass ich Zeuge sein werde, wenn er in Italien
breitschlage, zu was allem die Menschheit fähig sei. Man möchte
ihm nicht glauben.
Nicht nur in Italien, sondern in
der ganzen Welt soll man davon wissen. Ja, heute haben schon viele Leute
die Grausamkeiten durch Filme gesehen. Noch nicht alle glauben daran, aber
die Wirklichkeit kann man nicht umgehen.
Nachdem mein Vetter erzählt
hatte, was dort getrieben wurde, bekam ich Angst und wollte sofort nach
hause. Wir hatten beide das Gleiche im Sinn: Nur weg von hier!
Kaum auf dem Bahnhof angekommen,
nahm uns ein SS-Mann in die Zange. Er hielt einen grossen Hund an der Leine,
verlangte unsere Papiere und fragte, was für eine Sprache wir sprächen.
Wir sagten, "italienisch". Indem er uns unsere Pässe zurückgab
sagte er, dass die Maccaroni auch werden deutsch lernen müssen. Dann
ging er weiter. Damit meinte er, dass auch Italien bald ihnen gehören
würde.
Endlich kam ein Zug von Polen mit
Weiterfahrt nach München. Durch die Tür kam Nino nicht hinein,
denn dort war alles voller Soldaten. Es blieb nur der Einstieg durch ein
Fenster: Von innen zogen ihn die Soldaten hinauf, von aussen half ich so
gut ich konnte. Schlecht und recht kam er doch noch zu hause an.
Mit dem nächstbesten Zug kam
auch ich - spät in der Nacht - nach Hause. Ich war sehr müde
und konnte trotzdem nicht schlafen, weil die Ereignisse des Tages mich
sehr erschrocken hatten: Ich hatte immer noch die gestreifte Kolonne vor
Augen.
Während wir auf den Zug gewartet
hatten, konnte der Nino von all den Grausamkeiten erzählen, die sie
in den Lagern gegenüber den Juden fertigbrachten. Er hatte nicht übertrieben:
1945 trafen wir in einem russischen Lager drei Mädchen aus Griechenland
und eine Frau aus Turin (Italien). Sie hatten keine Haare, eingesunkene
ängstliche Augen und sassen immer am Boden. Zum Stehen hatten sie
noch keine Kraft. Sie brauchten gar nichts zu sagen. Ihre Erscheinung sagte
mehr als genug, denn ihre Gestalten hatten noch die Form eines Skeletts.
Ein paar italienische Gastarbeiter hatten sie anfangs des Jahres 1945 auf
dem Haufen der Toten gefunden. Da sie noch atmeten nahmen sie sie mit.
Es lag schon Schnee am Boden. Sie wurden auf Bretter gelegt, durch die
verschneite Strasse gezogen und wieder ins Leben gebracht. Das war eine
gute Tat. Die Frau aus Turin war an die Nazis denunziert worden für
dreitausend Lire. Ihr wurde das Kind zu Tode malträtiert. Sie muss
so geweint haben, dass ihre Tränenkanäle sich nicht mehr verschlossen.
Sie hatte immer ein nasses Gesicht von dem Augenwasser. Ich schätzte
sie um die 40 Jahre alt, eine schöne Person und sehr gebildet.
1944 bekam ich auch kein Zeichen
mehr von meinem Mann. Mir war nicht mehr wohl. Ich ahnte nichts Gutes.
Meine Nichte Steffi, etwa 13 Jahre alt, kam von der Schule heim. Sie sagte
zu ihrer Mutter, dass sie in der Schule vernommen habe, dass wieder einer
gefallen sei, der auch Marbach heisse. Meine Schwägerin dachte, es
sei nur ein Gerede oder eine Verwechslung, da ihr Sohn vor kurzem gefallen
war und auch Marbach hiess. Leider ging es doch um meinen lieben Paul:
Er war noch jung, denn mit 33 ist man noch nicht alt. Nach zehn Tagen wurde
für ihn eine Messe gelesen. In der Kirche wurde ein leerer Sarg aufgestellt.
6 Soldaten standen als Ehrengarde stramm um ihn und ich liess meinen Tränen
freien Lauf. Das war das Ende vom Ende, ich war ganz gebrochen.
Es war November und schon ziemlich
kalt. Es fiel der erste Schnee und die Russen waren nicht mehr weit. Die
Glocken auf dem Turm gaben den ersten Alarm zum Evakuieren, denn die Propaganda
gegen die Bolschewiki war sehr furchterregend. Die Aufregung im Dorf war
sehr gross und wir wussten nicht, was machen. Zur letzten Warnung wurden
sogar Blashörner eingesetzt.
Es kamen Offiziere von der Armee
und befahlen uns zu fliehen. Hauptsächlich junge Frauen und Schulmädchen,
da die Vergewaltigung an der Tagesordnung sei. Irgenwie wollten die Russen
sich auch rächen: Ihre Feinde waren noch brutaler mit den Menschen
in ihrem Land.
Da bepackten wir beide unsere kleinen
Schlitten mit Wolldecken und warmen Kleidern. Ich zog die Stiefel von meinem
Mann an und mit schweren Herzen zogen auch wir mit dem Flüchtlingsstrom.
Wohin, das fragte keiner, es hiess nur: Vorwärts! Der Name "Russe"
wurde gar nicht mehr gebraucht. Es wurde nur vom Feind geredet unter der
Wehrmacht. Auf den Strassen war das reinste Chaos. Die Soldaten mit ihren
Lastwagen voller Munitionskisten kamen auch nicht mehr weiter. Die Leute
hatten immer noch so viel Angst vor der Gestapo, dass sie nicht mal Fluchen
konnten. Nur die Kinder durften noch Weinen.
Es wurde Januar 1945 - harte Kälte,
verschneite Strassen, halbverhungerte Leute mit traurigen Gesichtern zogen
ihr Schicksal mit sich und wir beide waren auch noch immer dabei. Problematisch
wurden die Nächte: Man drückte sich gewöhnlich in der Nähe
von Bahnhöfen herum. Wenn wir das Glück hatten, Viehwaggons auf
Abstellgeleisen anzutreffen, waren wir froh.
Nur noch die Soldaten grüssten
sich mit "Heil Hitler". Bei der Zivilbevölkerung hatte das stark abgenommen.
Die Kälte tat mir nicht gut. Ich wurde krank. Der Schmerz wegen dem
Tod meines Mannes gab nicht nach, Schwäche, Fieber und Husten nahmen
immer mehr zu. Irgenwo hielten wir an. Mit Mühe fanden wir einen alten
Arzt, der mich gratis untersuchte. Die Diagnose lautete: Lungenkrank. Ich
war so erschrocken, dasss ich nicht mal Weinen konnte wegen diesem Bericht.
Und doch glaubte ich nicht daran. Er gab mir Medizin und sagte, es sei
noch alles, was er habe und wünschte mir alles Gute. Unter der Tür
hörte ich ihn noch sagen: "Sie sind noch jung. Sie werden sicher noch
gesund." Ich dankte ihm herzlich und ging wieder zu meiner Schwester, die
auf mich wartete. Wir machten ein paar Tage Pause in einem kalten Viehwaggon.
Ich musste mich ein wenig erholen.
Die russischen Kanonen donnerten
immerzu. Die deutschen auch. Das Programm der Amerikaner und Engländer
war offenbar, nachts zu Bombardieren. Manchmal war das reinste Inferno
in der Gegend. Wir mussten weitermarschieren. Aber wir sangen nicht das
gewohnte Lied der deutschen Soldaten: Heute gehört uns Deutschland
und morgen die ganze Welt. Dieses Lied hatte sicher der Führer komponiert.
Schliesslich kamen wir nach Reichenbach
bei Bautzen. Dank meiner Schwäche wurden wir beide bei einem alten
Ehepaar aufgenommen. Als ich sah, dass in der Wohnung lauter Hitlerbilder
hingen, sagte ich leise zu meiner Schwester, sie solle mit dem Nazigruss
eintreten, sonst bekämen wir kein Bett, denn ich sehnte mich so sehr
danach, wieder einmal in etwas Warmem zu liegen.
Wir bekamen ein Bett für beide.
So konnten wir einander wärmen. Am andern Tag sagte die Frau zu uns,
fürs Essen sollten wir selber sorgen, sie habe auch nicht viel. Wir
wanderten ein wenig durch die Stadt und vernahmen dort, ein Lazarett sei
aufgestellt worden für die ersten Verwundeten. Vielleicht hätte
man dort Hilfe brauchen können. So hätten wir auch zu Essen bekommen.
Wir konnten es finden und der Oberarzt war froh um unsere angebotene Hilfe.
Er zeigte uns die armen Verwundeten, die in einem sehr schlechten Zustande
waren: Die einen hatten keine Arme, die andern keine Beine, viele mit Bauchschuss
und noch viele weitere Leiden. Man hörte nur Schmerzensgeschrei.
Ich fragte sie, ob man ihre Angehörigen
benachrichtigen solle. Niemand war dafür, dass ihre Leute ihren unvorstellbaren
Zustand sehen sollten. Einmal wagte der Oberarzt zu sagen, "das haben wir
dem Hitler zu verdanken". Auch seine Kollegen waren seiner Meinung. Drei
Wochen konnten wir bleiben. In der Zeit starben viele, dafür kamen
Neue; es war das reinste Chaos.
An einem Morgen kamen wir wie gewohnt.
Da trafen wir ein Durcheinander. Alles war aufgeregt. Der Chef sagte uns,
dass das Lazarett aufgelöst werde: Sie müssten fliehen. Die Russen
seien schon in der Nähe. Er dankte uns für die Tapferkeit und
die Hilfe. Er sagte uns auch, dass er uns nicht mitnehmen könne. Wir
seien Zivilisten. Er könne für uns keine Verantwortung auf sich
nehmen. "Und was wird mit uns", fragte die Emma. Dabei weinten wir wie
noch nie.
Der Herr hatte ein weiches Herz
und konnte uns nicht mehr abschlagen, mitzufahren. Er dachte sicher, es
sei sowieso bald alles fertig. Er erlaubte uns, in dem grossen Bus mitzufahren.
Die Lastwagen luden alles auf, was sie mitnehmen konnten, auch unser Gepäck.
Wo die Patienten geblieben waren konnte ich nie erfahren.
Wir fuhren in Richtung Bautzen,
sehr langsam, denn die Strassen waren verstopft vor lauter Flüchtlingen
mit ihren Karren, Schlitten und Kinderwagen.
Am Mittag wurde eine Pause eingeschaltet.
Es gab Verpflegung. Ein Arzt kletterte auf den Bus. Mit dem Fernglas suchte
er die Gegend ab. Ganz aufgeregt sprang er vom Bus und schrie "Abfahren,
alles liegenlassen, russische Panzer sind im Wald zu sehen". Wir flüchteten
gegen Bautzen zu. Es wurde Abend und wir mussten uns verabschieden von
all den Ärzten. Wir fragten nach unserem Schlitten. Keiner wusste
etwas davon. Wir wussten nur, dass er auf einen Lastwagen geladen worden
war. Der Oberarzt versprach uns, dass er für unser Gepäck besorgt
sein werde. Am nächsten Tag sollten wir um genau 9 Uhr auf dem Platz
in der Stadt sein. Dahin werde uns ein Lastwagenfahrer unsere Sachen bringen.
Irgendwo konnten wir schlafen gehen.
Wie abgemacht waren wir pünktlich auf der Stelle. Der Soldat kam auch
mit unserem Schlitten. Er gab uns ausserdem einen Karton. Den wollten wir
nicht, denn er gehörte nicht zu unseren Sachen. Aber wir mussten ihn
annehmen, denn ihn schickte uns der Oberarzt. Das Paket war voller Lebensmittel.
Unsere Freude war gross.
Die ersten Tage hatten wir nun genug
zu Essen.
Wieder mischten wir uns in den Wanderstrom.
Es ging weiter bis Dresden. Die schöne Stadt war am Boden - in Schutt
und Asche. Die Engländer hatten sie in einer einzigen Nacht mit ihren
Bomben so zugerichtet. Es hatte vielen Menschen das Leben gekostet. Wie
wir in die Stadt kamen sah man noch Leichen in der Elbe. Ich fragte mich,
wo die Gerechtigkeit bleibe. Auch der Herrgott gab kein Zeichen von sich.
Es ging weiter gegen Meissen. Gesundheitlich
ging es mir besser, aber wir wollten nicht mehr weiter. Dort konnten wir
in der berühmten Porzellanfabrik auf mit Stroh belegtem Boden übernachten.
Vom Staub hatten wir alle ganz geschwollene Augen.
Man hörte hier und dort, dass
auf der Westseite der Elbe die Amerikaner angekommen seien. So wie alle
anderen Flüchtlinge wollten wir auch dorthin.
Nach dreitägigem Aufenthalt
kamen Bauern aus den Dörfern mit ihren landwirtschaftlichen Vehikeln
und holten Leute, aber nur solche, die mitgehen wollten. Dort konnten sie
bleiben, bis der Krieg zu Ende war. Nach den gegenwärtigen Verhältnissen
konnte das nicht mehr lange dauern. Wir beide waren auch mitgefahren nach
dem Dorf Heinitz und wurden von der Familie Fesel aufgenommen. Endlich
hatten wir wieder ein Bett! Der Krieg dauerte noch drei Monate. In der
Zeit gingen wir zu Leuten, die eine Schneiderin benötigten. Es war
schliesslich unser Beruf. Wir wollten unseren Gastgebern nicht zu sehr
zur Last fallen. Unser Angebot machte im Dorf die Runde, so dass wir überall
Arbeit bekamen. Wir bekamen so genug zu Essen. Ruhe vor den Bomben hatten
wir auch einige Zeit. Dafür donnerten die Kanonen immer näher.
Die Deutschen konnten der russischen
Front nicht mehr standhalten. Die Bodenschlacht war nicht mehr zu beschreiben.
Die Toten konnte man auch nicht mehr zählen. Ihre Kameraden hatten
auch keine Zeit mehr, sie zu begraben. Wir Frauen mussten auf dem Dorffriedhof
die Gräber ausschaufeln und die steif gewordenen Soldaten hineinlegen.
Für einen Sarg war keine Zeit. Sie wurden in Plachen eingewickelt
und wir mussten sie zu Dritt in ein Grab legen. Sie hatten auch keine Erkennungsmarke
um den Hals. Die Inschrift auf den primitiven Holzkreuzen sollte lauten
"Unbekannt".
Es wurde April 1945. Von den Amerikanern
war keine Spur zu sehen. An einem Sonntag, es war Ende April, geschah folgendes:
Meine Schwester liebte sehr die Natur. Sie fragte den Herrn Fesel, ob er
ein Fernglas hätte, sie möchte gerne wissen, was für Vögel
es gebe in der Umgebung. Statt Geflügel bekam sie ein ganz anderes
Bild ins Fernrohr: Lauter Panzer mit Hammer und Sichel als Bezeichnung.
Sie rannte so schnell sie konnte wieder nach Hause mit der Meldung: "Die
Russen sind da!" Herr Fesel glaubte ihr nicht, aber Emma liess sich nicht
von ihrer Aussage abbringen. Zuletzt hatte ihr der gute Mann doch geglaubt.
Er alarmierte das ganze Dorf und wer Alkohol im Hause hätte, sollte
alles ausleeren, denn wenn die Russen betrunken seien, wären sie auch
nicht mehr zurechnungsfähig.
Man kann sich denken, in welcher
Angst wir waren als die Panzer vor unsere Türen rollten. Die Soldaten
inspizierten jedes Haus, ob deutsche Soldaten zu finden seien, aber sie
fanden keine mehr.
In Heinitz machten sie Rast. Gegen
Abend kamen 5 Soldaten. Einer war Lieutenant. Der kleinste Soldat trug
eine halbe Sau auf der Achsel. Sie machten es sich im Hause Fesel gemütlich.
Nachdem sie ihr Fleisch gebraten hatten, mussten wir alle auch mit ihnen
essen. Sie tranken Wodka dazu. Man hätte meinen können, sie gehörten
zur Familie. Ich muss noch erwähnen, dass die Familie Fesel aus Mann,
Frau und einem 13jährigen Jungen bestand.
Der Abend zog sich in die Länge.
Der Offizier war der Meinung, wir beide sollten Schlafen gehn. Voller Bange
krochen wir samt unseren Kleidern in ein einziges Bett. Es ging nicht lange,
kam der Offizier an unser Bett, ganz erstaunt, dass wir in den Kleidern
lagen und zitterten. Er konnte gebrochen französisch. Da fragte er,
was die Deutschen über sie erzählten, dass wir solche Angst vor
den Russen hätten. Er sagte "Dobronotsch" und ging.
In jener Nacht hatte uns kein Mensch
belästigt. Am andern Tag zogen sie weiter. Dafür kamen andere.
Viele Mongolen waren dabei und wüteten
mit der Weiblichkeit ohne Unterschied zwischen alt und jung. Die Soldaten
hatten uns noch nicht entdeckt. Es war höchste Zeit, uns zu verstecken.
Der Chef wusste ein Plätzchen unter dem Dach neben dem Kamin. Mithilfe
einer Leiter konnten wir beide unterkriechen. Der junge Alfred war unsere
Wache vor dem Haus. Wenn die Luft rein war gab er Zeichen. Wir konnten
zum Essen kommen, mussten aber schnell wieder unters Dach.
Am 5.Mai 1945 nahm der harte Krieg
sein Ende. Man kann sich denken, wie die Freude der Russen gross war, nach
Jahren harter Kämpfe Sieger geworden zu sein.
Sie jubelten, sangen und tranken
von ihrem guten Wodka. Ich konnte mich gar nicht freuen, denn mein Paul
kam nicht mehr zurück.
Eines nachts, drei Wochen waren
wir versteckt, kamen Soldaten ins Haus und suchten uns. Vielleicht hatte
uns jemand verraten. Sie wurden so böse als sie uns nicht fanden,
dass sie drohten, Frau Fesel zu töten. Eventuell hatten sie zu viel
getrunken. Dann gingen sie doch weg. Am andern Tag mussten wir das Dach
verlassen. Fesels wollten nichts mehr riskieren wegen uns. Die Angst, die
wir überstanden hatten war unermesslich.
Der Mai ging fast zu Ende, die Wärme
nahm immer mehr zu und das lange Liegen Tag und Nacht wurde unerträglich.
Die Stelle war zu niedrig als dass man stehen konnte. Wir kamen herunter.
Die drei Wochen Ferien dort oben
hatten uns nicht gut getan: Wir hatten ein krankes Aussehen bekommen. Ich
noch mehr als die Schwester. Das Haus war ein Doppelhaus. Nebenan wohnte
eine alleinstehende Frau. Am andern Tag kam sie ganz aufgeregt zu uns und
forderte uns auf, zu ihr hinüber zu gehen. Sie habe die Stube voller
Russen und sie wollten Gesellschaft. Ich sagte ihr, ob sie verrückt
geworden sei. Wir hätten uns so lange versteckt und jetzt liefen wir
ihnen freiwillig bin die Arme. Sie hätten ihr gesagt, dass sie anständige
Soldaten seien und niemandem etwas zu Leide täten. Gut, wir gingen
hinüber.
Sie sassen gemütlich um den
Tisch und machten uns Platz. Auch wir bekamen Wodka zu trinken. Nach einer
Weile rückte der Soldat neben mir seinen Stuhl immer weiter von mir
und schaute mich ganz missmutig an. Er dachte sicher, dass ich aus einem
KZ komme. Der eine konnte ein wenig deutsch. Der sollte mich fragen, ob
ich krank sei. Eine Antwort fiel mir schwer. Was sollte ich sagen. Eine
Stimme in mir sagte "ja, ja ,ja!". Dann sagte ich auch ja. Was für
eine Krankheit? Meine Antwort klng ganz deutlich, so dass alle hören
konnten "Tuberkulose". Das hatten sie alle verstanden. Das Wort ist international,
soviel ich weiss. Das wurde meine Rettung. Ich konnte gehen. Meine Schwester
auch, sie war sicher auch nicht gesund. Schwer atmend stand ich auf. Die
Emma hatte schnell den Trick verstanden. Sie stützte mich beim Gehen.
Im Dorf wurde bekannt, dass die zwei Italienerinnen krank seien.
Niemand durfte uns belästigen.
Eine zeitlang mussten wir uns nicht mehr verstecken. Es ging aber nicht
lange, so mussten diese Soldaten fort und eine andere Kompagnie marschierte
in Heinitz ein.
Ein junger Soldat namens Peter,
der gut deutsch konnte, suchte bei uns Quartier für seinen Hauptmann.
Er konnte auf einem Divan in der kleinen Stube schlafen. Das war auch eine
abgemachte Sache mit Peter: Wenn er den guten Kapitan Skibinski überreden
könnte, bei uns zu wohnen, wären wir eine zeitlang wieder gerettet.
Der Herr Kapitan war von vornehmer Gestalt, nicht sehr gross, aber auch
nicht klein. Auch nicht mehr jung. Ich glaubte, er hatte schon bemerkt,
dass die zwei Italienerinnen Schutz suchten für die Nacht. Wenn der
Kapitan Skibinski bei uns wohnte hätten wir Ruhe vor den Soldaten.
So war es auch gewesen: Seine väterliche Erscheinung gab uns Zutrauen
zu ihm. Der Peter war sein Adjutant und Dolmetscher und so kamen wir uns
immer näher.
Eines Tages kam er mit zwei Armbinden
mit der Aufschrift "Italianski" nach Hause. Von nun an sollten wir sie
immer tragen als eine Art Schutz. Er sprach nicht viel, aber er machte
sich Sorgen um uns zwei. Vielleicht hatte er auch junge Mädchen zu
hause, die er lange nicht mehr gesehen hatte.
Er beauftragte den Peter, zwei Fahrräder
zu besorgen. Irgendwo werde er schon welche finden, ohne Problem. Jetzt
waren schliesslich sie die Kommandierenden im Dorf.
Eines Tages kam er selber mit zwei
Petroleum-Stallaternen daher. Die waren auch für uns, wir würden
sie gebrauchen in der Nacht. Dann sollte der Peter Lebensmittel besorgen,
möglichst viel Reis und Büchsen mit allerlei Inhalt. Der gute
Herr war sicher der Meinung, dass wir direkt nach Italien wollten. Aber
der Weg nach Oppeln an der Oder war auch noch lang genug. Ich musste dorthin
wieder zurück, hatte noch viel zu erledigen. Nach allem, was er für
uns getan hatte musste man den Kapitan Skibinski gerne haben.
Die zwei Wochen, die er bei uns
war gaben uns wieder Mut und Kraft für die lange Reise zurück.
Leider musste er wieder weiterziehen. Aber zuvor gab er uns noch die feste
Anweisung, unsere Reise noch nicht anzutreten. Es sei noch zu gefährlich,
sich auf die Strassen zu begeben. Seine Soldaten seien noch zu wild, hätten
noch nicht recht begriffen, dass sie sich nach dem Krieg umstellen müssten,
es wären schon andere Regeln in Kraft getreten. Auch der Verlierer
habe jetzt das Recht, respektiert zu werden.
Der Abschied von dem lieben Kapitan
fiel uns sehr schwer. Wir verloren nicht nur einen guten Menschen, sondern
auch einen Schutzengel. Als Andenken gab er mir sein Silberbesteck: Löffel,
Gabel und Messer. Zur Ehre von Kapitan Skibinski aus der Ukraine habe ich
das noch heute, zusammengebunden mit einer schönen Schleife.
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch
mit ihm, nachdem ich gesehen hatte, wie ein am Boden sitzender Offizier,
den Rücken an einen Eichenbaum gelehnt von ein paar vor ihm stehenden
Soldaten ins Gesicht geschlagen wurde. Da fragte ich, ob sie so wenig Disziplin
hätten in der Armee. "Wenn wir unsere Soldaten nicht mit einer lockeren
Leine gehalten hätten, wären wir heute auch nicht die Sieger
geworden." Das war seine Antwort.
Da ich von der Vergewaltigung der
Russen geschrieben hatte möchte ich auch nicht unterlassen zu erwähnen,
dass meine Schwester bei der Flucht schwer missbraucht wurde von einem
deutschen Gefreiten. Wenn nicht andere Soldaten sie hätten befreien
können - ich weiss nicht, was aus ihr geworden wäre: Ich lag
schon in einem Güterwagen, da kam die Emma. Sie schwankte und fror
abnormal. Das Blut rannte ihr die Beine entlang. Sie konnte nur noch sagen
ich solle sie wärmen; sie friere sich tot. Ich tat mein Bestes, sie
zu erwärmen bis sie eingeschlafen war. Ich ahnte immer noch nicht
was mit ihr passiert war.
Am anderen Morgen konnte sie darüber
reden. Eine zeitlang verlor ich den Respekt vor allen Soldaten. Im Krieg
werden alle mehr oder weniger gleich.
Jetzt musste man sich nicht mehr
wundern, dass wir so Angst hatten.
Mitte Juni 1945 hatten wir uns entschlossen,
den Rückweg anzutreten. Schwer wurde der Abschied von der guten Familie
Fesel, die uns so lange in ihrem Heim geduldet hatten. Schliesslich waren
wir mit ihnen weder verwandt noch bekannt.
Deshalb verdienen sie ein grosses
Lob und Dank und die Erinnerung in uns für immer.
Wir konnten ihnen kein Entgelt überlassen
für die liebe Aufnahme: Das deutsche Geld galt wegen der Inflation
nichts mehr. Nur unsere Schlitten blieben im Heim zurück. Es war jetzt
Sommer und sie dienten uns nicht mehr.
Die Fahrräder hatten sie darin
abgelöst, unsere Last zu tragen. Obwohl wir nicht viel fahren konnten
- die Gegend war ziemlich hügelig - war es doch immer noch besser
sie zu stossen als zu tragen.
Sogar die Sonne war uns gnädig:
Sie begleitete uns jeden Tag mit ihrer Wärme. Aber in der Nacht machte
auch sie Pause - so wie wir. Wir suchten Unterkunft in den Häusern.
Viele Leute wiesen uns ab, sie meinten es sicher nicht böse. Wir gaben
zu verstehen, dass wir uns selber verköstigen könnten und wenn
wir dürften etwas Reis kochen reichte es bestimmt auch für sie.
Auf diese Weise klappte es hier oder dort immer. Zwar gab es nicht immer
ein Bett. Wir waren auch zufrieden mit einem Schlupfwinkel wo wir sicher
waren vor den Sowjetsoldaten. Diese waren auch sehr scharf auf gute Fahrräder.
Sie nannten sie "Maschinka".
Es ging jeden Tag weiter. Geografisch
waren wir zwei nicht sehr kundig, aber wir fragten immer wieder jemanden,
ob wir auf dem richtigen Weg wären nach Oberschlesien.
Aber eines Tages ging es nicht mehr
so problemlos wie bisher: Wir kamen durch ein Dorf in dem beidseits der
Strasse eine Menge Soldaten rasteten. Ich hörte, dass einer zum andern
sagte "Maschinka charascho". Es gab in mir wie einen Blitz und ich sagte
zu Emma: "Wir haben unsere Gepäckträger nicht mehr lange". Und
so wurde es auch.
Die zwei Soldaten warteten bis wir
aus der Menge heraus waren und überraschten uns beim Wald - beide
auf einem Fahrrad - indem sie uns ihre Maschinenpistolen auf die Brust
drückten und nach unseren Maschinka verlangten. Wir wehrten uns in
dem wenigen Russisch, das wir gelernt hatten: "Da der Krieg vorbei ist,
könnt ihr unsere Maschinka nicht wegnehmen. Wir müssen bis nach
Italien damit!"
Es nützte alles nichts, auch
unsere Armbinde nicht. Wir zwei kämpften wie wir konnten aber sie
waren die Stärkeren, lösten mit ihren Messern unser Gepäck,
so dass alles mitten auf der Strasse lag und fuhren jetzt mit drei Maschinka
bergab. Der eine mit nur einem Fahrrad war schnell davon, aber der andere
mit zweien hatte mehr Mühe. Ich überlegte nicht lange, warf was
ich an den Füssen hatte von mir und lief den doppelten Räubern
hinterher. Einmal fiel er hin.
So gewann ich ein wenig Zeit, um
ihm auf den Fersen zu bleiben und in der Hoffnung, Hilfe zu bekommen. Die
Hilfe kam. Ein offenes Auto mit vier Offizieren kam angefahren. Ich stellte
mich mit ausgebreiteten Armen mitten auf die Strasse. Ich musste gar nicht
viel reden, sie hatten selber gesehen, um was es ging. Sie hielten an und
stellten den Soldaten. Er weigerte sich, er sei Soldat und brauche die
Fahrräder. Da stieg ein Offizier aus dem Wagen und gab ihm eine Ohrfeige.
Aber er hielt noch immer die beiden Maschinkas fest. Nach der zweiten Ohrfeige
liess er sie los und rannte davon.
Ich dankte den Herren sehr. Einer
sagte noch, ich solle keine Angst haben, der komme sicher nicht mehr. Sie
salutierten und fuhren weiter. Bei der Schwester angekommen sagte ich ihr,
ich käme wieder mit beiden Vehikeln. Mamma mia, das war eine Aufregung
- und doch mussten wir weiter.
An dem Tag suchten wir früher
als sonst ein Nachtquartier. Bei einer taubstummen Frau fanden wir Platz
in einer Scheune auf duftigem Heu. Bei ihr im Haus durften wir etwas Reis
kochen. Es reichte auch für sie. Ich schlug der Schwester vor, die
Mäntel und Schläuche von den vollgepumpten Rädern wegzunehmen.
Die Komödie von heute wollte ich nicht noch einmal mitmachen. Sie
war einverstanden und wir verstauten die Teile in unserem Gepäck.
Jetzt machten die Räder mit ihrer Blösse viel Lärm auf den
gepflästerten deutschen Strassen. Dafür war die Gefahr nicht
mehr da, dass man sie uns wegnehmen konnte. Klar, wir brauchten jetzt mehr
Zeit. Es kam auch auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. So weit war
es auch nicht mehr bis zu unserem Zuhause.
Ich vernahm unterwegs, dass Oberschlesien
wieder zu Polen gehörte. Somit mussten wir nun polnisches Geld haben
zum weiterleben. Unsere Fahrräder wurden unsere erste Hilfe - dank
dem Kapitan Skibinski.
In der letzten Nacht, wo wir noch
um Unterkunft bitten mussten begrüsste uns die Bäuerin mit den
Worten, ob wir ihr auch die Leintücher stehlen wollten wie die letzten,
die bei ihr geschlafen hätten. Wir schworen, sowas nie zu machen.
Ich muss aber auch sagen, dass wir auf unserer langen Reise nie in einem
Bett geschlafen hatten. Sie schlug voller Kraft die Haustüre zu. Wir
staunten ob dieser Geste, denn sie kam uns gar nicht so böse vor.
Wir liefen auch nicht weg, denn die Bank neben der Tür zog einen an,
sich einen Moment darauf zu setzen. Diese kleine Rast tat uns sehr wohl
nach dem langen Marsch.
Nach einer kleinen Weile kam die
gute Frau wieder. Mit Schwung riss sie die Türe auf, stemmte ihre
Fäuste in die Hüften und sagte mit lauter Stimme, ob wir gedenken
auf der Bank zu schlafen - und was die Armbinde bedeuten solle?
Meine Schwester sagte ihr, sie solle
keine Angst haben, wir trügen nicht das Hakenkreuz mit uns. Es bedeute
nur, dass wir Italienerinnen seien. "Ja sowas" sagte sie mit einem weicheren
Ton. Plötzlich änderte sie ihre Meinung. Ganz diplomatisch meinte
sie, das es unverantwortlich sei, um diese Zeit noch auf der Strasse zu
sein. Es werde ja bald dunkel und wir sollten ins Haus kommen, es gäbe
Pellkartoffeln mit Quark, so eine Art Sauermilch.
Wir assen mit Wonne. Zu trinken
gabs frische Milch dazu. Wir mussten am Abend viel erzählen: Der Bauer
war sehr interessiert zu hören über Italien und auch über
den Krieg und andere Sachen. Wenn wir alle Wein getrunken hätten,
so wären wir bis zuletzt noch weitläufige Verwandte geworden.
Aber die Milch hatte nicht die gleiche Wirkung und so durften wir zwei
ins Bett gehen als gute Freunde.
Im Bett dachte ich, dass heute vor
acht Tagen auch Sonntag gewesen sei und dass wir auch heisse Kartoffeln
gegessen hatten. Aber am Mittag und wie immer hatte ich auf die Suche gehen
müssen, denn die Emma schämte sich zu sehr, obwohl sie immer
mehr Hunger hatte als ich. Es war auch ein Bauernhaus - ziemlich weit von
der Strasse. Dort angelangt klopfte ich ganz anständig an die Tür.
Eine schöne, grosse blonde Frau mit grossen blauen Augen nahm sich
Zeit herauszukommen. Ich bin von Natur aus geduldig und wartete.
Sobald sie die Tür öffnete,
kam mir eine Wolke von Dampf aus der Küche entgegen. Demnach wurden
Kartoffeln gekocht. Sie wollte mich abweisen, aber ich gab nicht nach.
"Es schmeckt so gut nach Kartoffeln", meinte ich freundlich zu ihr. Die
Antwort lautete, wir könnten sie nicht essen, das sei nur für
die Schweine. Es sei eine andere Sorte und sehr gross.
Im Stillen dachte ich: "Desto besser".
Aber ich sagte nur, "wenn die Schweine nicht sterben daran, dann können
sicher auch wir essen von der Sorte."
Unwillig nahm sie doch den Deckel
von dem grossen Kessel und fischte einen heraus, der fast so gross war
wie eine gelbe Melone. Sie wollte schnell den Kessel zumachen, aber ich
fragte auch schnell, ob ich noch eine haben könnte, wir seien zu zweit:
"Ich bitte Sie!" Sie war nicht guter Laune, aber sie gab mir doch noch
eine von den grossen Kugeln.
Sie wartete gar nicht auf meinen
herzlichen Dank, schlug die Türe zu und ich lief schon mit den heissen
Kugeln in der Hand, sie ab und zu in die Luft werfend - sie waren heiss
-, zu der Schwester. Glücklich wie zwei Fische im Wasser setzten wir
uns unter einen schattigen Baum und assen die Schweinekartoffeln. Sie waren
gar nicht so schlecht. Nach dieser Erinnerung schlief ich ein.
Am andern Morgen kamen wir aus dem
weichen Bett wie zwei Murmeltiere aus dem Winterschlaf. Auf dem Küchentisch
waren schon allerlei gute Sachen aufgestellt. Ich lobte ihre Kühe,
die so gute Milch lieferten. Sie bekam ganz rote Backen vor Freude und
erinnerte uns daran, dass ihre Kühe zu den schönsten gehörten
weit und breit. Kinder hatten sie keine zum Lieben, umso mehr taten sie
sich wärmen an ihren Tieren. Wir hatten auch vernommen, dass ihre
Hühner sehr fleissig seien mit Eier legen. Es freute uns auch, dass
Frau Berta voller Freude von ihrem Tierreich erzählte. Die zwei guten
Leute wollten uns noch einen Tag bei sich behalten, aber die Unruhe in
uns war stark geworden: Wir wollten wieder zu hause sein.
Nach unserer Berechnung hätten
wir es bis am Abend geschafft, Voksdorf zu erreichen. Dort hatten wir bis
vor sechs Monaten noch gewohnt. Damit hätten wir auch unsere letzte
Etappe überstanden gehabt. Die Neugierde gab uns zudem Antrieb zu
wissen, ob noch alles da sei, was wir zurückgelassen hatten.
Unsere Gastgeber hatten ein Einsehen
für unseren Plan. Sie liessen uns ohne Proviant für die ersten
Tage nicht gehen: Ein so grosses rundes Brot hatten wir noch gar nie gesehen,
dazu Mehl, Eier, Schweinefett und eine Flasche Milch für auf den Weg.
Ich musste auch versprechen, wiederzukommen, wenn wir nichts mehr hätten.
Sie hatten ein gutes Versteck unter dem Boden, so dass die Russen nichts
finden konnten. Es habe noch genug, auch für uns, sagte die gute Berta.
Wir trennten uns gar nicht gerne von ihnen, aber es musste so sein. Als
Entgelt hatten wir nichts zu geben, nur viele Dankesworte und ein Stück
unseres Herzens hatten wir ihnen zurückgelassen.
Der Bauer lachte noch über
unsere Fahrzeuge. Sie wirkten ganz komisch ohne ihre Bekleidung. Uns genügte,
wenn sie nur noch rollten bis daheim, zuhause. Hier und dort, an einer
Mauer sahen wir noch den Spruch von Hitler gepinselt: Räder müssen
rollen für den Sieg. Es war doch nicht nach seinem Wunsch gegangen,
obwohl ich jedem den Sieg gegönnt hätte - aber ohne grosse Verluste.
Wir waren froh, dass unsere Räder
uns heimbrachten, wenn auch nur auf den Felgen. Unsere letzte Rast verbrachten
wir wieder unter einem Baum. Von weit her hörte man Glocken Mittagszeit
schlagen, da wusste der Magen, um was es ging. Uhren hatten wir nicht.
Das runde Brot gab einen soo guten Duft von sich, dass man nicht länger
warten konnte. Mit etwas Fett darauf wurde es ein Festessen. Die Milch
gab uns Kraft zum Weitergehen.
Der Monat Juli 1945 fing schon an,
es war schön und warm im Land, für uns fast zuviel, da wir noch
Winterklamotten tragen mussten. Im Dezember 1944 glaubten wir noch nicht,
so lange fortbleiben zu müssen.
Die Schwester hatte noch die letzte
Schweineschmalzschnitte in der Hand und sagte wohlwollend: "Welch ein Segen!"
"Du meinst doch nicht, dass dieser Segen vom Himmel kommt?" sagte ich laut.
Wir hatten 5 Jahre lang nur Vernichtungsbomben erlebt, die Hölle war
auf Erden, man hatte gewartet auf ein Friedenszeichen von oben, aber es
war nie eines gekommen. Auch nicht, als die Menschen verbrannt wurden wie
Tannenholz, aber lebendig!
"Hast vergessen die eine Nacht in
Vogsdorf, wo der Himmel schwarz war von Flugzeugen, und die Erde beleuchtet
wurde mit ihren synthetischen Christbäumen, damit sie ihre Ziele genau
treffen konnten. Teuflischer konnte es nicht mehr zugehen. Mal spielte
ihnen der Wind einen Streich, nahm die Beleuchtung mit sich, die Piloten
verloren ihre Ziele, so dass die Zivilbevölkerung mit ihrem Leben
bezahlte. Keine Religion protestierte dagegen. Alle hatten Angst vor dem
ungebildeten Menschen mit dem kleinen Schnauz unter der Nase." Die Nacht
werde ich nie vergessen: Es war ein Samstag. Wir hatten einen Hefekuchen
bekommen. Er war für Sonntag gedacht, aber die Emma war der Meinung,
dass wir die Nacht nicht überleben werden. Wir hatten uns in unser
Versteck verkrochen und warteten auf ein Ende, aber dort oben dachten sie
noch nicht daran, Schluss zu machen. Sicher weil sie immer Hunger hatte
kam ihr der Kuchen in den Sinn. Plötzlich sagte sie: "Wenn ich schon
sterben muss will ich nicht mit leerem Magen begraben sein." Aber holen
wollte sie den Kuchen auch nicht, denn wenn gerade eine Bombe über
das Haus fallen würde - das wollte sie auch nicht riskieren. Wir warteten
auf einen günstigen Moment. Ich mit meinem mütterlichen Sinn
gab natürlich nach: Ich rannte schnell ins Haus und holte den Kuchen.
Die leeren Bomber flogen fort und die beladenen kamen schon als Ersatz:
Es hagelte wieder wie vorher.
Wir assen unseren Kuchen. Die Emma
war nicht gestorben und am Sonntag hatten wir nichts mehr. - "Jetzt habe
ich Dich erinnert an die bösen Zeiten, Emma. Komme mir nicht mehr
mit dem Segen von oben. Den Segen haben uns die Bauersleute mit ihrer Güte
gegeben. Jetzt wollen wir nicht mehr Diskutieren, wir müssen weiterziehen."
Wir packten unsere Siebensachen
auf unsere zwei Räder, Begleiter, an deren Lärm von den leeren
Felgen wir uns schon gewöhnt hatten. Bis zuletzt klang es in unseren
Ohren wie schlechte Musik.
Endlich, nach vielen Strapazen,
schlechten und guten Erlebnissen kamen wir an unser Ziel.
Wir erwarteten grosse Freude bei
den Verwandten zu unserer Ankunft. Sie zeigten gerade das Gegenteil. Die
Schwägerin wollte schnell unsere schönen Sommerkleider von der
Leine abnehmen, wir sollten nicht wissen, dass ihre Mädchen sie getragen
hatten, aber wir hatten schon von Weitem gesehen, wie sie flatterten mit
dem Wind. Auch unser Wohnraum sollte nicht mehr für uns sein. Jetzt
habe es so viele leerstehende Häuser, die wir bewohnen könnten,
sagte uns die Schwägerin. Uns war das recht, denn wir hatten im Sinn,
wieder nach Italien zurückzukehren.
Wir fanden, was wir suchten, räumten
unsere Sachen aus dem Haus und brachten sie in ein verlassenes Häuschen.
Wenn wir Glück hatten, waren wir bereit, unsere Reise nach Italien
anzutreten bevor die Eigentümer zurückkamen.
Leider kommt es immer anderst als
man denkt: Erstens eine Pause einschalten, zweitens sich an die Polen gewöhnen
un drittens Geld anschaffen für die Heimreise. Es herrschten noch
chaotische Zustände: Um am Leben zu bleiben konnte man auch ohne Geld
auskommen, indem man Waren umtauschte auf dem Markt in Opole - jetzt hiess
es nicht mehr Oppeln. Unser Proviant ging zur Neige.
Als erste war Emma bereit, ein Kleid
zu opfern. Das war kein Wunder, denn sie hatte auch immer mehr Hunger als
ich. Was sie alles herausgeschlagen hatte aus einem Kleid weiss ich nicht
mehr, nur die Butter ist mir geblieben. Sie kam ganz stolz wieder nach
Hause und meinte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Sie breitete
die miese Ware auf dem Tisch aus. Darunter auch die Butter. Das hatte mir
am besten gefallen: Etwa 300 Gramm schön eingepackte Butter. Noch
schöner war die Aufschrift: Masla. Ich packte sie aus und was sah
ich? Kartoffelpüree! Es rutschte mir ein Fluch aus dem Mund.
Sie waren auf Betrug eingestellt
wie Gauner. Nachdem die Leute geflohen waren und der Krieg zu Ende ging
räumten die Polen die Häuser aus. Wer jetzt seine Möbel
zurückhaben wollte, konnte sie auf dem Markt kaufen gehen. So gehts
mal auf der Welt: So oder so, jeder will leben.
Ein anderes Mal war ich auf den
Markt gegangen, um schweren Herzens meine schöne Puppe zu opfern.
Sie war in der Form von einem zwei Monate alten Baby. Sie sah aus wie ein
echtes Kind. Ich hatte ihr auch einen Namen gegeben: Den Namen meines Vaters
Alberto. Viele Leute liefen mir nach und fragten nach dem Preis. Jeder
sagte, dass die Puppe sehr schön sei: "Dobre Leika".
Ich hatte keine Ahnung über
ihren Wert in Geld. Ich fing bei 400 Zloty an, die Bewunderung nahm ziemlich
ab. Also dachte ich, der Preis sei zu hoch. Eine Frau bot mir 200 Zloty,
ich ging weiter. Ein Mann bot 250. Die Angebote stiegen immer mehr bis
eine ältere Dame einverstanden war mit 400. Ich sollte sie nach Hause
begleiten, denn sie hatte nicht so viel Geld bei sich. Zu Hause angelangt
bekam ich das Geld und sie meine Puppe. Zum Glück hatte ich nicht
nachgegeben, denn mit dem Erlös hatten wir auch nicht lange gelebt.
Der Kurs des polnischen Geldes war auch nicht hoch. Auf dem Heimweg weinte
ich, weil ich meinen Alberto nicht mehr hatte. Wenn ich traurig war, hatte
ich ihn sogar zu mir ins Bett genommen. Er gab mir das Gefühl, ein
Kind zu haben, das ich während dem Krieg nicht haben durfte.
Von unseren Eltern hörten wir
schon lange nichts mehr. Sie von uns auch nicht, so dass der Drang zum
Wiedersehen immer stärker wurde. Die jetzige Ruhe brachte uns zur
Besinnung. Das Heimweh machte sich bemerkbar.
Jetzt gab es kein Warten mehr: Wir
wollten nach Italien zurück. Das weitere Trampen kam nicht mehr in
Frage, die Heimat war zu weit weg. Bis jetzt waren wir uns vorgekommen
wie zwei Vagabunden, aber ohne Gitarre. Nun wollten wir mit der Bahn fahren,
aber das Geld fehlte. Als Kapital hatten wir noch die Fahrräder. Ich
verschönerte sie noch mit ihren Schläuchen und Mänteln und
polierte sie blank. So wurden sie bereit für den Verkauf. Für
die zwei Fahrräder bekamen wir 800 Zloty. Wenn es auch nur bis
an die italienische Grenze gereicht hätte: Dort wartete das Rote Kreuz
auf zurückkehrende Gefangene. Aber nein, es sollte nicht sein: Der
Typhus regierte in der Gegend.
Kein Wunder bei den vielen Kadavern,
die noch auf den Feldern lagen: Soldaten und auch viele Pferde, die zum
Kampf eingezogen worden waren, wurden nicht begraben. Jeder rannte um sein
Leben, Grass wuchs darüber und die Sommerhitze verbreitete die Bakterien.
So wurde auch meine liebe Schwester Emma von der bösen Krankheit befallen.
An unseren Traum war nicht mehr zu denken. Addio bell'Italia!
Weit und breit gab es keine Ärzte,
Medikamente noch weniger. Ich hatte eine alte Krankenschwester ausfindig
gemacht, die helfen kam. Ihre Diagnose lautete Lungenentzündung. Emma
hatte über 41 Grad Fieber. Ich musste sie nachts ausziehen und in
ein ganz nasses, kaltes Leintuch wickeln. Damit hätte ihr Fieber ein
wenig nachlassen sollen, aber dies war nicht der Fall. Sie sagte mir, ich
solle Geduld haben. Nach 9 Tagen werde es eine Wendung geben. Dann werde
sie wieder gesund. Die Tage vergingen, das Fieber ging noch höher.
Sie trank Tag und Nacht. Sie sagte, dass der Brand in ihrem Bauch wie Feuer
sei.
Ihr Mund wurde wund. Bis zuletzt
gab ich ihr mit einem dünnen Schlauch zu trinken. Kein Mensch kam
mir zu Hilfe. Die Leute hatten Angst vor Ansteckung.
Eine Nacht kam unverhofft Besuch:
Zwei junge russische Soldaten. Da wir keine Schlüssel hatten von dem
Haus vermachte ich jede Nacht die Türe von innen mit einem mächtigen
Baumstamm. Sie waren sicher vom Fach: Mit einem Eisen hoben sie die Türe
von unten, der Stamm fiel um und sie kamen ins Haus. Eine Taschenlampe
in der Hand suchten sie etwas zum Mitnehmen. Sie hatten Pech, wir hatten
selber nichts.
Es war mir alles egal, nur die Schwester
durften sie mir nicht anfassen. Ich sagte ihnen, sie sei schwer krank.
Sie lag im Bett wie ein geschlagener Hund, auch voller Angst. Nur ihre
von dem hohen Fieber roten Backen gaben ihr noch ein wenig Ausstrahlung
als Mensch.
Doch sie liessen sie in Ruhe,
nahmen den Wecker und noch ein paar Sachen und gingen fort.
Mit grosser Mühe und Kraft
brachte ich es fertig, die Türe wieder anzubringen. Ob dieser Aufregung
zitterte ich noch lange. Es war uns nochmal gut gegangen.
Meine liebe Schwester machte mir
grosse Sorgen: Die Tage vergingen und ich musste zusehen wie sie zugrunde
ging. Ich fragte hier und dort, wo ich Hilfe bekommen könnte. Am besten
meldete ich mich in einem russischen Gefangenenlager. Dort gab es sicher
einen Arzt. Sofort machte ich mich auf den Weg. Ohne Mühe konnte ich
es finden. Ich meldete mich bei der Wache, welche begriff, um was es ging
und mir sagte, es gäbe auch einen italienischen Doktor bei den Gefangenen,
ich solle nur hineingehen. Einen Moment lang glaubte ich, dass mir das
Herz stehenblieb vor Freude.
Es war Ende August 1945. Es ging
gar nicht lange, der dottore kam und ich erklärte ihm meine Lage.
Er fragte, wo ich wohne. Ich erklärte ihm deutlich den Weg zu uns:
Es waren schon ein paar Kilometer zu laufen. Er gab mir zu verstehen, dass
es nicht so einfach sein werde, er habe nichts zu sagen im Lager. Die russische
Ärztin habe das Kommando, er habe auch keinen Zugang zu den Medikamenten,
es werde aber höchstens Chinin vorhanden sein. Er versprach, mit ihr
zu reden. Ich weinte lauter Tränen und sagte immerzu, dass meine Schwester
am Sterben sei, er solle uns doch bitte helfen. Wenn er nur die Chefin
überreden könnte und auch aus dem Lager dürfte! Seine letzten
Worte gaben mir Hoffnung.
Am nächsten Tag kam der italienische
Offizier in Begleitung von einem Soldaten auf einer Karre, gezogen von
einem Pferd und brachte Chinin, um das Fieber herabzusetzen. Er erschrak
ob dem Zustand der Schwester: Ob er wohl noch helfen konnte? "Irgendwo
geschieht auch mal ein Wunder" sagte der gute Doktor. Von da an kam er
jeden Tag mit Chinin, aber er sah keine Besserung.
Die Emma plante schon, wo sie wollte
begraben sein: Unter einem Lindenbaum, dort wäre es schön frisch
gewesen. Sie brannte noch immer innerlich. Der Doktor beschloss, sie ins
Lager mitzunehmen. Er hatte gehört, dass in den nächsten Tagen
ein Transport nach Italien zusammengestellt werde.
Unser Doktor fasste den Plan, dass
sie - falls sich ihr Zustand ein wenig bessern würde dank dem Chinin,
das sie jetzt in dem Lager bekam - es riskieren sollte, mitzufahren. Der
Zug bestand aus Viehwagen. Sie würden sie samt ihrem Bett mitnehmen.
Die Verantwortung sollte ich auf mich nehmen.
Die Reise sollte mehr als 2 Wochen
dauern und warm war es auch nicht mehr - es war schon anfangs November.
Unser Doktor meinte, wenn wir die italienische Grenze erreichen könnten
hätte die Emma noch die Chance, gerettet zu werden. Ich aber zweifelte
daran: Ich war in eine Zwickmühle geraten. Ich sollte viel Wasser
abkochen und in Flaschen geben, damit sie genug zu Trinken hätte auf
der langen Reise.
Nach drei Tagen hatte man auch mich
abgeholt: Mir wurde so komisch, ich gab der ganzen Aufregung die Schuld
daran. Aber es war nicht das: Es war schon Fieber. Der Doktor untersuchte
mich. Die Diagnose lautete: Typhusanfang. Er gab einen Fluch von sich und
meinte, das hätte uns gerade noch gefehlt. Von der bevorstehenden
Reise in die Heimat war nicht mehr die Rede. Er musste mich melden bei
der Chefin des Lagers. So waren die zwei Schwestern Emma und Bianca wieder
beisammen.
Die rassige Ärztin in ihrer
braunen Lieutenants-Uniform und mit schönen Stiefeln wirkte faszinierend.
Zwei Herren in weissen Kitteln waren ihre Begleiter. Unser Doktor spielte
nur den Handlanger, war auch nur ihr Gefangener. Er zog mir das Hemd hoch,
damit sie mir die Lunge abklopfen konnte. Sie meinte, dass die Ursache
des Fiebers von der Lunge käme. Der Italiener gab seinem Temperament
den Lauf indem er ihr widersprach und sagte, dass er in Turin als Lungenspezialist
gegolten habe und er behielt seinen Standpunkt. Sie fühlte sich blamiert
vor den anderen und verteidigte sich, indem wir beide in andere Lager gebracht
werden sollten. Dort gäbe es auch gute Ärzte. Sie wollte genau
wissen, wer von den beiden Recht hatte: Russland oder Italien.
Am andern Tag wurde ihr Befehl ausgeführt
und wir wurden mit derselben Karre nach Oppeln gebracht. Sie war breit
genug für die schmalen Liegen, die wir benutzten. Dort wurden wir
wie jeder andere Patient aufgenommen. Wir kamen in dasselbe Zimmer. Sehen
konnten wir uns nicht, da die Betten hintereinander standen. Wir waren
sehr froh, dass wir noch miteinander sprechen konnten.
Gegen Abend kam ein weiblicher Soldat
zu mir mit einer Kerze in der Hand und Kupferschröpfer dazu. Sie sagte
kein Wort, sie meinte sicher, dass das nicht nötig wäre, weil
wir uns sowieso nicht verstanden hätten. Mit ihren kräftigen
Händen zog sie mir das Hemd aus und die Prozedur ging los. Sie erhitzte
die Schröpfer auf der Flamme und drückte sie voller Kraft auf
meinen Rücken. Sie nahm es mit der Hitze nicht so genau. Wie sie fertig
wurde sagte ich trotzdem: "Spassiba". Nach der geeigneten Zeit kam sie
wieder und nahm die Schröpfer weg. Sie hatten ihre Erwartungen nicht
erfüllt. So spukte sie mir auf den Rücken und ging mit ihren
Sachen davon. Die Wunderdinger hatten keinen Tropfen Wasser gezogen.
Also doch Typhus! Jetzt musste ich
mich mit dem Abfuhrmittel befreunden: Die Därme sollten leergehalten
werden. Damit auch die Bazillen mit davongingen wurde nicht gespart mit
der Dosierung. Das war kein Rhizinusöl. Es war eine Flüssigkeit,
die ich nicht kannte. Es kamen immer zwei Personen mit einem vollen Glas.
Ich musste nur den Mund weit offen halten, der eine hielt mich fest und
der andere schüttete das Zeug hinein. Mit dieser Methode waren sie
sicher, dass die Medizin an den richtigen Ort gelangte.
Der Patient, der vor mir in dem
Bett gelegen hatte, musste sehr krank gewesen sein, da es noch sehr mit
Blut befleckt war. Ich durfte mich nicht weigern hineinzuliegen und musste
froh sein, dass wir zwei aufgenommen wurden. In dem schmutzigen Bett warteten
sogar die Läuse auf mich. In dieser Zeit durfte man sich über
nichts mehr wundern.
Es ging langsam, aber die Emma erholte
sich dadurch, dass sie etwas Nahrung zu sich nahm. Aufstehen konnte sie
noch nicht, sie war noch zu schwach.
Ein Gefangener namens Capitano Solera
kam uns jeden Tag besuchen. Er war ein älterer Herr und kam auch aus
Turin, war auch in der gleichen Kompagnie wie unser lieber Doktor. Als
er sah, dass die Emma lebendiger wurde versuchte er, ihr aufzuhelfen. Er
wollte ihr das Laufen beibringen, aber ihre Beine trugen sie nicht. Nach
und nach konnte sie immer mehr Schritte gehen, aber nur mit Hilfe des Capitano
Solera. Nach einiger Zeit konnte sie das Bett sogar vor mir verlassen.
Ich freute mich sehr für sie: Es kam mir vor wie ein Wunder. Vielleicht
kam das doch von oben.
Ich lag noch einige Zeit, denn ich
wurde ja später krank als sie. Auch die Güte von diesem Capitano
erinnerte uns immer noch an Kapitan Skibinski.
Wenn die schöne Dottoressa
nach Oppeln kam, nahm sie auch ihren Dottore mit. Versteckterweise kam
er schnell zu uns, tat mir den Rückan abklopfen und sah, dass ich
geschröpft wurde: Hier und dort gab es noch Zeichen. Er freute sich
über die Genesung von Emma und schlich aus dem Zimmer. Er sagte nur
noch, Italien habe doch gewonnen und die Freude machte ihn noch schöner.
Er passte gut zu der Frau Doktor, sie auch zu ihm. Ich schätzte sie
beide im gleichen Alter: Etwa um die 35 Jahre alt, ich könnte mich
auch trompieren.
Der Tag und die Nacht waren lang
im Bett zu liegen, so kam mir allerlei in den Sinn. Ich erfuhr, dass der
Transport, mit dem wir mitsollten doch abgefahren war. Warum war unser
Doktor nicht mit dabei? Die russische Ärztin wusste, dass der Konvoi
nicht nach Süden sondern nach Osten sollte. Sie wollte ihm diese Strafe
ersparen, weil sie ihn liebte. Das alles vernahmen wir von Herrn Solera.
Jetzt begriff ich, warum er so viele Rechte hatte bei ihr.
Der Capitano wusste immer alles,
er hatte gute Augen und gute Ohren, verstand sich auch gut mit der Lagersekretärin.
Sie hielt ihn ziemlich auf dem Laufenden.
Endlich durfte auch ich das Bett
verlassen. Demnach hatte mir die radikale Abfuhr doch gut getan. Nur die
kleinen Tierchen in meinen Haaren quälten mich noch.
Meine Schwester gab sich alle Mühe,
mich zu befreien, was ihr schliesslich auch gelang: Jetzt hatten wir nur
noch Hunger. Die Verpflegung bestand aus gekochtem Hafer mitsamt den Hülsen.
Es gab immer das Gleiche - morgens und abends. Das Wenige, was uns in einer
Gamelle gebracht wurde reichte nie aus, unsere Mägen zu sättigen.
Mit leerem Magen konnte man auch nicht gut einschlafen. Versteckterweise
kamen wir ab und zu in der Nacht zu einer Sitzung zusammen. Wir fragten
uns, was für ein Interesse die Russen hatten, uns so lange gefangen
zu halten!
Um uns monatelang zu füttern
mussten sie einen Grund haben: Sie passten nur eine gute Gelegenheit ab
und dann fuhren sie auch mit uns in die Taiga. Auch der Pakt von Genf machte
Mütterchen Russland keinen Eindruck, die Gefangenen heimzuschicken.
Die Zeit verging, wir wurden unruhig und schweigsam. Die Warterei tat unseren
Nerven nicht gut.
Obwohl Capitano Solera sehr intelligent
war und auch der Älteste unter uns, war er doch machtlos: Das Lager
hatte keine Ausgänge zum Fliehen.
Man sagt immer, alles habe sein
Ende. Auch für uns gab es endlich ein Ende der Gefangenschaft: Es
kam eine Delegation Amerikaner und sie sahen, dass das Lager noch voller
Gefangener war. Sie drohten dem Kommandanten, in drei Tagen das Lager zu
räumen und die Leute an ihre jeweiligen Landesgrenzen zu bringen.
Diese Gefangenen waren weder als
Tote noch als Vermisste gemeldet worden. Die Angehörigen wussten,
dass sie zuletzt in deutscher Gefangenschaft waren. Die Frage: Wo sind
sie jetzt? blieb offen. Es blieb nur noch die Hilfe vom Roten Kreuz. Die
anderen Länder hatten ihre Gefangenen schon lange frei gelassen. Bei
den Sowjets rührte sich nichts. So kam das Rote Kreuz in Bewegung
und suchte bei den Russen. Sie fanden verschiedene Lager hier und dort
und unseres dazu. Die Russen gaben nach, ein langer Zug mit Viehwagen rollte
vor unser Lager. Unser Jubel mit Tränen gemischt wurde immer lauter.
Aus leeren Kesseln machten die Männer Öfen in den Waggons.
Es wurde Dezember 1945, die Kälte
nahm zu. Zu uns gesellten sich eine Familie mit zwei Kindern und einem
neugeborenen Jungen sowie eine junge Dame, gross und schön und sehr
gebildet in mehreren Spachen. Kein Mensch konnte ihre Herkunft erraten.
Der Capitano und andere Offiziere hielten sie für eine Amerikanerin
zur Begleitung des Transportes mit Beruf Spionin zu unseren Gunsten, damit
der Zug wirklich nach Süden geführt werde.
Wenn der Zug mal Halt machte stieg
sie aus und blieb lange weg. Die Abfahrt verpasste sie nie. Sie wusste
anscheinend immer, wann der Zug weiterfuhr. Wir nahmen an, ihre Verbindungsleute
warteten auf ihre Meldung darüber, auf welcher Strecke sich unser
Konvoi befand. Mit dieser Bewachung hatten die Russen nicht mehr freie
Bahn. Sie hielten immer weit weg von Bahnhöfen, so dass man nicht
sehen konnte, wo wir waren. Hie und da blieb der Zug lange auf alten Geleisen
stehen. Wir wurden unruhig, eine Woche waren wir schon unterwegs. Das kleine
Baby in unserem Wagen weinte wie es nur konnte.
In dem Stroh auf dem wir lagen bemerkten
wir noch kein Ungeziefer. Das war schon ein grosser Trost - eine Plage
weniger. Mal hatten wir auch das Glück, auf einen Güterbahnhof
zu kommen, wo es hier und dort einen Waggon voller Kartoffeln gab. Unsere
Kameraden waren flink wie Ratten, sich des guten Gemüse zu
bemächtigen. Altes Holz zum
Heizen und um die Kartoffeln zu kochen fanden sie immer. Für kurze
Zeit bekamen wir eine bessere Laune, aber wenn der Magen lange leer blieb,
hörte auch die Freundlichkeit unter uns auf.
Unter uns weilte auch ein Israelit,
ein Überlebender aus Auschwitz. Er musste nicht mehr den Davidsstern
vor der Brust tragen: Er sagte selbst, dass er Jude sei. Er hatte im Ghetto
von Warschau gewohnt und beim Widerstand gegen die SS mitgewirkt. Das ging
auch sehr grausam zu. Dieser Herr kam ab und zu in unseren Wagen, um die
Langeweile zu unterbrechen. So gaben wir unsere Erlebnisse zum Besten.
Unsere Leiden waren nichts gegen die seinen. Er war in das Lager von Auschwitz
deportiert worden zusammen mit tausenden von Anderen.
Ein paar wenige hatten das Glück
gehabt zu überleben, er war auch einer von denen. Als studierten Menschen,
Ingenieur von Beruf hatten die Deutschen ihn gut gebrauchen können.
Deshalb lebte er noch. Als die russischen Befreier gekommen waren, nahmen
sie ihn zu sich in der Absicht, ihn in Sibirien auch gut gebrauchen zu
können.
Ich hörte gerne zu was sich
in dem Ghetto zugetragen hatte und wünschte immer, solche Geschehnisse
niederzuschreiben.
Der Himmler und der Eichmann waren
die Kommandierenden der SS in Warschau. Mit allen erdenklichen Vorwänden
gingen sie vor, um die Leute aus dem Ghetto zu holen. Sie schlugen Plakate
an die Wände, dass das schweizer Rote Kreuz bereit sei, sie in die
Schweiz aufzunehmen - hauptsächlich alte Leute und Kinder.
Wer dran geglaubt hatte war gerade
in den Tod geraten. Die Transportwagen waren nur getarnt mit dem Roten
Kreuz. In Wirklichkeit waren die Wagen ihre Todesfalle: Die Leute wurden
in den Waggons vergast noch bevor sie in den Lagern ankamen. Dieser Herr
und noch viele andere hielten sich in dem Ghetto versteckt und verschafften
sich heimlich verschiedene Waffen, um eine Revolte zu machen. Ihre Standpunkte
waren auf den Dächern der Häuser im Ghetto. Von ihren Zubringern
vernahmen sie, dass die Deutschen eine grosse Razzia machen wollten, damit
sie bis zum letzten Juden alle in ihre Hände bekamen.
So war auch der Tag gekommen, als
eine Schwadron voll bewaffneter SS ins Ghetto marschierten. Aber sie hatten
nicht damit gerechnet, von oben beschossen zu werden. Die Mehrzahl waren
Deutsche gewesen. Die SS hatte keine andere Wahl mehr als das Ghetto zu
verlassen. Der Himmler musste dem Hauptquartier die Niederlage und die
Verluste melden.
Eine solche Blamage hatte der Führer
nicht gerne angenommen und gab den Befehl zurück, die Ratten auszuräuchern,
indem das Ghetto in Flammen vernichtet werden sollte.
Das war etwas für die SS, denn
sie war nur zum Töten da. Die Meinung, die sie von sich hatten in
ihren schwarzen Uniformen mit den zwei S auf dem Kragen: Von Weitem sah
man ihren Stolz, dass sie in solcher Einheit der Vernichtung dienen konnten.
Es wurde nicht lange gezögert:
Hitlers Befehl wurde ausgeführt. Das Ghetto verwandelte sich in eine
Hölle: Chaos, Panik und Geschrei mischten sich in den Flammen. Die
Möglichkeit, sich zu retten war sehr gering. Nur dieser Herr und ein
paar seiner Mitkämpfer hielten sich etliche Tage und Nächte in
dem Dreck der Kanalisation der Stadt Warschau auf.
Nach seiner Erzählung wurde
der Jude ganz bleich, einen Moment lang dachte ich, er breche zusammen.
Einer von seinen Zuhörern brachte ihn in seinen Waggon zurück.
Plötzlich hatte er ganz alt ausgesehen, obwohl er erst nahe bei 60
Jahren war. Die ersten Tage danach kam er nicht mehr in unseren Viehwagen
zum Plaudern, aber in der dritten Woche kam er wieder in der Meinung, dass
unsere Reise bald zu Ende sein sollte und jeder gerne seine eigenen Wege
gehen wolle. Er wollte nach Brescia und wir nach Piacenza.
Ich konnte nicht lassen, zu erfahren,
wie er in Auschwitz gelandet sei und erlaubte mir die Frage danach. Auf
vielen Umwegen konnte er Warschau verlassen - möglichst immer über
Land - und die letzte Nacht verkroch er sich in einem Kuhstall. Demnach
hatte er Wärme nötig, denn der Winter war schon angebrochen.
Die Müdigkeit hatte ihn schnell in den Schlaf gewogen.
Jemand musste ihn gesehen haben
in den Stall gehen. Wenn derjenige ein guter Nazi war, musste er sofort
die Gestapo davon benachrichtigen, dass sich in dem Stall ein Deserteur
verstecke. In höllischem Tempo kamen zwei von der Sorte und nahmen
ihn mit. Er machte es ihnen mit seiner Herkunft nicht schwer, gab sofort
zu, dass er Jude sei und so kam er sofort in das Konzentrationslager von
Auschwitz.
Was sie mit ihm dort gemacht hatten
wollte ich nicht mehr wissen: Ich hatte ihn schon genug strapaziert mit
meinen Fragen. Wir kannten ihn nur nach seinem Vornamen Tolek. Man konnte
schon an seinem Benehmen erkennen, dass er aus einer vornehmen Familie
stammte.
Unsere Lokomotive zog uns mit schwachem
Dampf Stück um Stück weiter. Der erste Halt war an der österreichischen
Grenze. Dies sagte man uns, denn es stand nirgends angeschrieben.
Amerikanische Soldaten nahmen uns
in Empfang, weil sie uns desinfizieren mussten. Wir mussten Schlange stehen,
um dann die bekannten Körperteile frei zu machen. So konnten sie uns
mit dem weisse DDT-Pulver bestäuben.
Wer noch Ungeziefer an sich hatte
lief nicht mehr Gefahr, es über die Grenze zu bringen. Wir dachten,
es gäbe nach dieser Prozedur etwas zu Essen, aber das war nicht der
Fall. Wir hatten alle die gleiche Haarfarbe bekommen. Nach langer Zeit
konnten wir wenigstens noch über unsere Köpfe lachen. Wir schienen
alle auf einmal gleichaltrig geworden zu sein.
Es ging wieder weiter. Langsam aber
sicher kamen wir nach Prag. Es war Mitternacht - endlich auf einem richtigen
Bahnhof. Die grosse, schön beleuchtete Stadt kam uns wie ein Märchen
vor. Es war ende 1945, die Amerikaner waren immer noch in Europa und unsere
ersten Gastgeber, indem sie uns Brot, Konfitüre und heissen Tee gegeben
hatten....
Man konnte schon sagen: Prag bei
Nacht. Ich kam mir vor, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, als ob es
nie einen Krieg gegeben hätte. Unsere Viehwagen blieben uns immer
noch treu - bis nach Verona. Es war noch ein langer Weg bis nach Italien,
aber das Gefühl, ausser Gefahr zu sein gab uns wieder Mut nach Hause
zu kommen: Die Russen konnten unseren Transport nicht mehr umleiten.
Wegen der langen Reise in den Viehwagen
ohne Fenster, so dass man gar nicht hinausschauen konnte tat ich die Zeit
zurücksetzen in meine vergangenen Jahre in Deutschland. Was hatte
ich erreicht? Im Stroh musste ich liegen bei meiner Ankunft und auf Stroh
musste ich liegen auf dem Rückweg. Ohne Geld war ich gegangen und
ohne bin ich zurückgekommen. Eigentlich hatte ich meine schönsten
Jugendjahre nur dahingeworfen, mehr in Leid als in Freude. Umgekehrt hatte
ich Vieles gesehen und erlebt, durch das ich viel reifer geworden war.
Alles zusammen wurde für mich eine grosse Lehre fürs Leben in
mancher Hinsicht.
Heute komme ich mir fast vor wie
eine Psychologin ohne Studium. Ein italienisches Sprichwort sagt: Vale
piu la pratica che la gramatica.
Einerseits schämte ich mich,
acht Jahre in der Fremde gewesen zu sein und das Elternhaus mit leeren
Händen zu betreten. Nach so einem schweren Krieg mussten sich unsere
Eltern sehr darüber freuen, dass wir überhaupt noch beide lebten.
Das andere spielte keine Rolle für sie.
Unser Rettungsengel hatte sich in
Prag von uns verabschiedet. Mit ihrer feinen Stimme sagte sie zu uns, wir
sollten keine Angst mehr haben, nach Russland deportiert zu werden. "Von
jetzt an seid ihr in Sicherheit und braucht meine Hilfe nicht mehr!" Damit
sprang sie von unserem Viehwagen und stieg in einen normalen Zug voller
polnischer Soldaten und fuhr davon. Wir dankten und winkten ihr nach bis
ihr Zug in der Dunkelheit verschwand.
Nach einer Weile schnaufte unser
Zug auch weiter in die Nacht hinein gegen Süden zu. Die grossen Türen
waren zugezogen worden nachdem wir alle hineingekrochen waren. Es war nicht
leicht, das Einsteigen. Für diese Wagen gab es keine Tritte: Zuerst
musste ein Mann hinein, dann zog er die anderen hinauf. So hatten wir einander
immer geholfen. Die Räder ratterten in ihrem gewohnten Ton auf ihren
kalten Schienen und wir freuten uns im Kerzenlicht darüber, das Brot
in die gute Marmelade zu tunken. Wie war das gut nach so langer Zeit, Brot
zu geniessen!
Dann kam unsere Agentin zur Diskussion.
Wir alle hatten nur gestaunt, wie ihre Pläne funktioniert hatten -
ohne Natel und Telefon!
Endlich erreichten wir die ersehnte
italienische Grenze Brennero doch noch. Es war schon Dezember 1945, den
Tag weiss ich nicht mehr. Wie hätte ich das auch wissen sollen, nachdem
wir schon so lange mit dem Kopf in den Wolken lebten. Wir lebten einfach
schon zu lange ohne Kalender. Der Gedanke, aus dem Elend herauszukommen
war uns wichtiger. Man hatte nur noch die Vision, nach Hause zu kommen.
Es war noch dunkle Nacht. Ein paar
Mönche erwarteten uns mit Glühwein, womit wir uns hätten
erwärmen sollen. Aber unsere Mägen waren noch nicht auf Alkohol
eingestellt - sie waren noch zu leer: Es wurde uns schlecht dabei. Es war
den Mönchen nicht recht, dass es uns so ergangen war. Sie glaubten
wohl, dass wir von Russland her kämen und sie hätten uns dort
mit Wodka verwöhnt.
So weit nach Osten waren wir doch
nicht gekommen: Wir kamen von Oberschlesien. Jetzt gehörte die Gegend
wieder zu Polen.
Der Aufenthalt auf dem Brenner dauerte
nicht lange und wir fuhren weiter gegen Bozen. Dort gab es einenlängeren
Halt. Wir wurden vom Roten Kreuz betreut: Es gab warme Suppe und auch warme
Milch. Die tat uns schon besser. Es musste jemand verbreitet haben, dass
unser Konvoi aus Russland käme, deswegen waren viele Leute anwesend.
Vielleicht waren sie ganz enttäuscht, dass die Kommunisten uns in
Viehwagen nach Hause schickten, noch dazu ohne Hammer und Sichel. Wenigstens
ein grosses Bild von Stalin hätte sich noch gut gemacht vor der Lokomotive.
Sie als Sieger des unvergesslichsten Krieges des Jahrhunderts!
Um sicher zu sein hätten wir
das Plakat nur bis an die italienische Grenze geduldet. Er war auch nicht
sehr gnädig mit seinem Volk: Wenn einer nicht seiner Partei angehören
wollte wurde er nach Sibirien verbannt. Auch für die Juden hatte er
kein Erbarmen während der Kriegszeit: Millionen Auslandrussen wurden
in die kalte Gegend deportiert. Ich fragte mich, ob dieses Sibirien so
gross sein könne, dass so viele Menschen noch Platz haben. Wo blieb
die Gerechtigkeit in der kommunistischen Partei? Auch in Italien ergriffen
viele diese Partei, denn sie hatten die Grausamkeiten von den Faschisten
gelernt. Wer die Politik versteht ist für mich ein Wundermensch.
Zurück zu unserer Heimfahrt:
In Bozen war es sehr ergreifend. Dort durften wir aussteigen. Wie unsere
Soldaten sich auf italienischem Boden wussten, küssten sie ihn und
weinten wie kleine Kinder. In ihren strapazierten Uniformen, abgemagert,
mit bleichen Gesichtern gaben sie keinen schönen Anblick. Auch das
Aussehen von mir und meiner Schwester war nicht besser.
In Bozen war es noch dunkel. Unser
Zug stiess noch dicke Rauchwolken in die Luft. Wir konnten wieder einsteigen.
Unser Zugführer wollte noch vor Mittag in Verona sein.
Auch dort wurden wir vom Roten Kreuz
betreut. Endlich durften wir uns waschen - als erstes das DDT vom Kopf
- so wurde unser Aussehen etwas menschlicher. Zum Essen gab es Teigwaren.
Dann wurden wir je nach Richtung verteilt.
In der Zeit, die wir zusammen verbrachten
wurden wir fast eine grosse Familie. Jetzt durften wir uns verabschieden
und zwar für immer, denn wir hatten voneinander nie wieder etwas gehört.
Drei Wochen hatte unsere Reise in
den dunklen Wagen gedauert. Man konnte nur noch Denken und die Zeit zurückschrauben,
die ich in Deutschland verbracht hatte. Ich fragte mich, was ich erreicht
hatte in den acht Jahren? Zehn Stunden am Tag schwer gearbeitet, zwei Jahre
auf Strohsack geschlafen, fast sechs Jahre Krieg erlitten und danach auch
noch unsere Ersparnisse verloren durch die Inflation der deutschen Mark.
So sind meine schönsten Jahre dahin.
Das Schicksal hat kein Steuerrad,
man folgt einfach den Wegen des Lebens. Ich hatte mich nie bedauert. Ich
dankte immer dafür, dass ich trotz allem am Leben geblieben war. Millionen
Menschen hatten viel mehr geliiten als ich, mussten sogar ihr Leben hingeben
ohne Grund, ohne zu wissen warum. Durch verschiedene Situationen hatte
ich auch vieles gelernt: Nicht nur die Füsse aus dem Schlamm zu ziehen,
auch viel mehr darüber, was man im Leben braucht. Jetzt, in meinem
hohen Alter komme ich mir fast vor wie eine Psychologin ohne Studium und
ich freue mich, wenn ich hie und da gute Ratschläge geben kann. Ich
kenne viel jüngere Leute, die mir noch gerne zuhören.
In Verona angekommen freute mich
nicht nur, in Italien angekommen zu sein, sondern auch, dass keiner von
uns krank geworden war. Ja sogar das kleine Baby von der Familie, die mit
uns tagelang die Stube teilen musste, war nicht krank geworden, nur seine
Stimme zum Weinen wurde schwächer. Auch seine kleine Schwester hatte
sich tapfer gehalten: Ab und zu drückte sie ihr Köpfchen in den
Schoss der Mutter und weinte ganz leise. Wie zwei hatte die Kinder liebgewonnen,
versuchten sie zu trösten mit kleinen Märchen. Anderes hatten
wir nicht zu geben.
Ich muss schon sagen, unsere Kraft
zum Weiterleben glich schon fast einem Wunder und unser Mut dem Zeiger
an einem Thermometer: Einmal oben, einmal unten, nur nicht aufgeben. irgendwann
kommt schon eine gerade Strecke, nur nicht zu schnell verzagen. Die Schöpfung
hatte uns so eine wunderbare Natur erschaffen. Warum sollte man sie nicht
Ehren so lange es geht?
Zurück zu unserer Weiterreise:
Auf dem Weg nach Piacenza kamen wir zuerst nach Mailand. Wir hatten noch
eine lange Strecke vor uns. Unser Fahrer wartete mit seinem Lastwagen auf
uns. Es war eine ziemlich verbrauchte Karre, der wir hinten aufsteigen
mussten. Nur die Kabine war geschlossen. Den Platz neben dem Fahrer nahm
der Doktor aus Turin ein. Mit uns weilten noch drei Soldaten auf dem Wagen.
Der Gestank von dem Diesel und alles andere, was sich in mir aufwühlte
war mir nicht gut bekommen. Unser Doktor wusste keinen Rat mehr als vor
einem Restaurant anhalten zu lassen. Er holte mir ein Gläschen Fernet,
wovon mir schon ein wenig besser wurde.
In Mailand angekommen hatte uns
der gute Doktor dem Roten Kreuz übergeben. Auf dem Bahnhof hatten
wir uns von unseren letzten Kollegen verabschiedet. Ein besonderer Dank
galt dem Doktor, der so viel getan hatte für meine Schwester und auch
für mich, als wir krank waren. Die anderen drei rannten nach einem
Zug, der sie nach Hause bringen sollte: Die grosse Familie war für
immer auseinander.
Eine Krankenschwester vom Roten
Kreuz hatte sich unser angenommen, Tabletten gegeben und dafür gesorgt,
dass wir eine bequeme Heimreise hatten. Damit ich gut liegen konnte, kam
nur ein Viehwagen in Frage. Sie hatte sich erkundigt, ob der Zug nach Piacenza
fahre und auch dort anhalte. Der Zug war ziemlich lang und nur wir zwei
fuhren mit. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde oder einiges mehr, denn
er konnte nicht so schnell fahren wie die normalen Züge.
Wir konnten gut liegen, durften
aber nicht einschlafen, um unser Endziel nicht zu verpassen. Wir redeten
miteinander, um wach zu bleiben, fragten uns, wieviele Soldaten wohl in
dem Wagen transportiert wurden während dem Krieg.
Sicher nicht alle waren zurückgekommen.
Wir konnten noch von Glück reden: Vieh oder Mensch waren doch heimgekommen.
Bis wir ankamen, war es schon Mitternacht. Man hatte uns doch nicht vergessen:
Ein Mann kam, öffnete uns die Wagentüre und half uns aussteigen
mit unserer Bagage.
Wir wurden immer weitergegeben von
einem zum andern wie ein Gepäckstück. Es hatte immer geheissen,
dass wir aus Russland kämen und kein Geld hätten. So hatte uns
auch der Bahnhofsvorsteher in Piacenza sein Büro zur Verfügung
gestellt, damit wir wieder auf unseren Decken am Boden liegen konnten bis
am Morgen. Um acht Uhr nahm uns das Postauto mit nach Carpaneto - auch
gratis. Der Fahrer hatte auch schon vernommen, woher wir kamen und drückte
beide Augen zu: Unser Aussehen sagte genug ohne viele Worte.
Im Dorf hatte sich unsere Ankunft
wie der Bisewind verbreitet. Zur Haltestelle kamen Verwandte und Bekannte
zur Begrüssung. Da die Kinder schneller laufen konnten, mussten sie
die grosse Botschaft unseren Eltern bringen. Auch sie kamen uns entgegen
mit ausgebreiteten Armen. Wir weinten alle - aber nicht das gleiche Weinen
wie am 4.April 1938, als ich sie verlassen hatte.
Die ersten Tage hatten wir viel
zu erzählen. An einem Abend sassen wir vor dem Kamin und starrten
in die schwache Glut, wo sich die geschlitzten Kastanien verborgen hielten.
Wenn die ersten drei ungeschlitzten voller Wucht aus der Asche knallten
war das das Zeichen, dass die anderen gar waren. So konnte man sie herausnehmen.
Sie waren soo gut. Und dann noch mit etwas Lambrusco dazu schmeckten sie
noch besser.
Plötzlich fragte unser Vater,
ob wir noch wussten, in welcher Situation wir uns im Juli 1945 befanden
- es war immer noch das Jahr unserer Ankunft. Er erklärte, dass die
Mamma ihn jeden Morgen nach seinen Träumen fragte. Da sie kein Lebenszeichen
von uns mehr hatten hofften sie, daraus etwas entziffern zu können
darüber, ob wir noch lebten oder nicht.
Unser Vater war sehr lieb und sehr
feinfühlig: Eines Morgens hatte er zu seiner Filomena gesagt: „Unsere
Mädchen leben noch!" Er erinnerte sich, uns in seinem letzten Traum
gesehen zu haben. Wir befanden uns in einem Strassengraben eingesunken
im Schlamm bis zum Hals, aber unsere Köpfe waren noch frei. Daher
meinte er, dass wir noch am Leben seinen. Er hatte recht: Die Schwester
war nach vier Wochen Typhus am Ende ihrer Kräfte und ich fing erst
an, krank zu werden an der gleichen Krankheit.
Es brauchte Zeit bis ich mich erholen
konnte. Es kam mir alles komisch vor in dem kleinen Dorf: Ich fühlte
mich eingeengt - es fehlte mir ein Stück Horizont. Sogar der Klang
der Glocken von der kleinen Kirche hatte einen ganz wehmütigen Ton.
Auch konnten wir nicht lange ohne Arbeit sein. Meine Schwester und ich
fassten den Plan, wieder Schneiderinnen zu werden für die Damen -
die Mode hatte immer wie ein Magnet gewirkt auf die Weiblichkeit. Unsere
Ideen waren nicht schlecht, wir bekamen auch Arbeit, aber die Leute waren
noch arm wie vor dem Krieg und zahlten nur mit Lebensmitteln. Es war alles
gut und recht, aber ohne Geld konnte man auch nicht durchs Leben gehen.
Ich hielt aus bis Juni 1947.
Da in der Schweiz Leute gesucht
wurden für die Mitarbeit in Hotelbetrieben meldete ich mich und fand
auch eine Stelle im Hotel Post in Meiringen. So nahm ich wieder meinen
treuen Begleiter - den Koffer - und war gerne dort gewesen. 1951 hatte
ich mich wieder verheiratet mit dem Adolf Fricke und wir hielten uns die
Treue bis zu seinem Tod.
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