Das Buch kann bestellt werden bei: whaeuptli@hotmail.com
Essbesteck Kapitan von Skibinski
Essbesteck Kapitan von Skibinski

Im Jahre 1938 waren sehr magere Zeiten, nicht nur in Italien, sondern überall: Grosse Armut und Arbeitslosigkeit.
Ich war im schönsten Alter und zwar 18 Jahre alt. Eines Tages wurde in Oberitalien bekanntgegeben, wer wollte könne nach Deutschland über den Sommer in der Landwirtschaft arbeiten gehen. Der Hitler hätte es sehr begrüsst, denn so könne er seine Leute gut gebrauchen in den Arsenalen, um Waffen in grossen Mengen zu schmieden. Wir wussten natürlich nicht, dass er im Sinn hatte, einen grossen Krieg zu führen, um die Welt zu erobern. Gottlob ist es anders gekommen als er wollte.
Mein Bruder Giuseppe war 12 Jahre älter als ich, sehr arbeitsam und hatte sich sofort gemeldet. Man vernahm, dass auch Frauen gesucht wurden für die gleiche Arbeit. So liess ich mich überreden, auch mitzufahren. Landwirtschaft war nicht mein Beruf, aber in der Not und mit gutem Willen kann der Mensch auch anderes machen, als was er gelernt hat.
Je näher der Tag der Abfahrt kam, desto trauriger wurde ich, denn die Trennung von den Eltern fiel mir sehr schwer. Ich weiss noch, wie die Mamma in der letzten Nacht vor der Abreise mich in ihr Bett genommen hatte, mich umarmte, ihr Gesicht ganz nass von bitteren Tränen und mich bat, auch im Ausland gut und brav zu sein, wie ich zu hause immer gewesen bin. Auch ich gab ihr unter Tränen mein Wort zu folgen und versprach ihr auch meinen Lohn, denn die Not zu hause war gross. Sie bat auch meinen Bruder, mir den Vater zu ersetzen in Germania, denn dazumal mit 18 Jahren war man noch nicht so weit wie heute im selben Alter...
Der Tag der Abfahrt war gekommen, Bekannte und Verwandte waren auf dem Bahnhof von Piacenza versammelt, um Abschied zu nehmen, bis der Rauch der Lokomotive zum Himmel stieg und die Räder langsam anrollten. Wir zogen die Fenster wieder nach oben, nahmen unsere Plätze ein und wurden ganz still.
Die Reise war lang bis nach Norddeutschland, denn die Züge fuhren noch mit Kohle. In München war der erste Halt, da bekamen wir eine warme Reissuppe. Proviant hatten wir von zu hause mitgenommen für den langen Weg, denn deutsches Geld hatten wir keines. Endlich - mit verrussten Gesichtern und geschwollenen Beinen - kamen wir in Lüneburg an.
Weil der Mussonlini und der Hitler gute Freunde waren, hatte man uns sogar mit Musik empfangen. Auf einen Lastwagen hatte man unser armseliges Reisegut aufgeladen und wir marschierten in Reih und Glied durch die schöne Stadt. Die Musik vor uns blies mit vollen Kehlen in die Strassen hinein und viele Menschen waren neugierig auf die Italiener - vielleicht hatten sie noch keine Südländer gesehen.
Dann kamen wir in einen grossen Saal, dekoriert mit den Fahnen beider Länder. Dort bekamen wir als Willkommensnachtessen ganz weichgekochte Spaghetti. Nach den grossen Reisestrapazen waren sie trotzdem angenehm. Nachher nahmen wir voneinander Abschied, denn wir waren Bauern zugeteilt, die schon auf uns warteten. Auch kamen Leute in den Saal uns zu sehen, darunter auch ein schönes Fräulein - sehr elegant gekleidet - und an ihrer Seite ein junger Offizier in Uniform. Sie lächelte mich an - ich sie auch, dann gab sie mir zu verstehen, dass sie Anneliese heisse. Dann wollte sie auch meinen Namen wissen. Da sagte ich: "Io mi chiamo Bianca". Sie fand meinen Namen schön. Sie zeigte mit den Fingern ihr Alter - 18 - und ich machte das gleiche. Sie fuhr mit der Hand über meine Haare, sagte immer "schön", dann war unsere Unterhaltung zu Ende. Aber sie ging noch nicht weg: Sie wartete bis sie vernehmen konnte, zu wem wir zugeteilt wurden. Endlich kam es soweit, dass sie unsere Adresse aufschreiben konnte. Dann ging sie mit ihrem stolzen Offizier davon.
Es war schon Nacht geworden bis wir unseren Herrschaften vorgestellt wurden. Der Herr Brammer war gross, stramm, mit kahl rasiertem Kopf, um die vierzig Jahre alt - ein richtiger Germane. Seine Frau auch gross, freundlich, schön und vornehm, sie gefiel mir sehr. Er nahm unsere Koffer, verstaute sie in einem schwarzen Mercedes und uns beide dazu. So fuhren wir in der tiefen Nacht durch die lüneburger Heide bis Süttorf. Nach einer langen Fahrt waren wir endlich am Ziel unserer Reise.
Die Wohnung bestand aus einer Küche mit Kochherd auf dem Zementboden und der Stube mit einem Tisch, zwei Stühlen, einem kleinen Schränkchen und einem Ofen. Im einen Schlafzimmer stand ein Bett. Es waren Nägel in die Wände geschlagen zum Kleider aufhängen.
Da kam das erste Problem auf: Wir wollten nicht zusammen schlafen, da wir nicht ein Ehepaar waren sondern Geschwister. Aber das verstanden sie nicht. Nachdem wir ihnen unsere unberingten Hände zeigten gaben sie uns zu verstehen, dass noch ein kleines Zimmer da sei und morgen würden sie für mich auch ein Bett bringen. Ja, das Bett kam mit einem grossen Sack voll Stroh als Matratze, so wie beim Bruder.
Nun waren wir in Deutschland und der Giuseppe hiess nicht mehr so sondern Josef.
Das Problem mit dem Schlafen hatten wir schnell gelöst, die Hälfte von dem Stroh aus dem Bett genommen und in die Stube gegeben, wo der Josef darauf schlief.
Am andern Tag ging ich aus dem Haus, um zu sehen, wo wir uns befanden. Da merkte ich, dass neben uns eine Familie wohnte mit drei Kindern, die draussen am Spielen waren. Da ich noch drei Orangen hatte, gab ich sie ihnen.
Sie betrachteten sie lange und dann spielten sie Fussball damit. Sie wussten nicht, dass man sie essen kann.
Gegenüber stand ein kleines Haus. Das galt als die Post. Eine ältere Frau führte sie. Es hatte sogar einen Telegrafen. Sonst war da das kleine Dorf bestehend aus ein paar Häusern, einem kleinen Laden und brammers Bauernhof, der sehr gross war.
Den ersten Tag durften wir uns ausruhen. Am morgen kam ein älterer Herr mit einem Korb in der Hand, worin sich unser Proviant für die ganze Woche befand.
Es war sehr knapp aber so war es im Vertrag geschrieben. Aber wir liessen deswegen den Kopf nicht hängen. Der deutsche Boden war bekannt für gute Kartoffeln. Davon konnten wir sicher satt werden. Der Herr war mittelgross, trug einen kleinen Oberlippenbart und hatte ein feines Gesicht. Das liess vermuten, dass er der Vater Brammer sei, denn reden miteinander konnten wir noch nicht.
Anfang April war es noch nicht so warm wie bei uns daheim. Aber die Arbeit, die ich machen musste, hielt mich schon warm: Ich musste in einen Schuppen, in dem viele gesägte Tannenstämme lagen, die gespaltet sein mussten. Das war meine erste Arbeit."Zehn Stunden täglich halte ich nicht aus", sagte ich zu meinem Bruder. Am Abend hatte ich nicht mehr die Kraft zum Sprechen. Mir taten meine Knochen so weh, dass ich in Weinen ausbrach und wieder nach Hause wollte. Der Josef tröstete mich indem er sagte: "Nach ein paar Tagen gewöhnt sich der Körper und man hat keine Schmerzen mehr. Wir wollen uns nicht blamieren. Jetzt, wo wir hier sind, müssen wir aushalten. Es wird auch wärmer werden, dann können wir im Freien arbeiten, auf den Feldern. Es wird nicht so schwer sein wie jetzt."
Nach einer Woche kam schon ein Brief von der Anneliese. Aber ich verstand kein Wort. Unser Nachbar versuchte, mir zu erklären, was in dem Brief stand. Aber es war alles vergebens für mich: Ich müsste mich an die Sprache gewöhnen, dann könnte ich anfangen mit dem Lernen. Man hatte uns ein kleines Wörterbuch gegeben, damit wir die fremde Sprache lernen konnten. Es blieb mir nur Zeit in der Nacht. Es war nicht einfach, denn ich hatte kein Licht im Zimmer. Die Leute, die mit mir arbeiteten gaben sich viel Mühe, mir die Sprache beizubringen. Der Wille war gross und nach und nach lernte ich immer mehr Wörter bis ich kleine Sätze bilden konnte. Die Leute fingen an, Freude an mir zu haben, so dass ich mehr Freude auch am Leben hatte.
Am 1.Mai war Tag der Arbeiter. Da wurde gefeiert und überall getanzt. Das war etwas für mich, denn ich tanze sehr gerne. An dem Morgen kam die Postfrau mit dem lüneburger Tageblatt. Voller Freude sagte sie, dass mein Name in der Zeitung stand. Ich sah mir das an: Ja, auf der Titelseite war gross geschrieben "Bianca lacht" und ein langer Bericht, den ich nicht lesen konnte.
Die gute Frau war enttäuscht, denn sie merkte, dass ich mich nicht freute darüber. Ich sagte ihr: "Mein Name ist Brigati, aber nicht Lacht", denn da wusste ich noch nicht, was das Wort bedeutete. Auf dem Tanzboden wurde auf mich mit dem Finger gezeigt: Die ist die Bianca. Da war mir nicht mehr wohl.
So bald ich nach Lüneburg fahren konnte ging ich zum Dolmetscher Galeazzi, der mir alles erklärte, worum es ging. Es war nur Gutes geschrieben über uns und dass Herr Brammer sehr zufrieden war mit uns. Aber über unsere miserable Unterkunft wurde nicht geschrieben. Die zwei Reporter, die uns besucht hatten auf dem Feld bei der Arbeit, wussten ja nicht, wie wir wohnten. Das hätten sie auch nicht geschrieben, denn unser Patron war bei der Partei NSDAP gross geschrieben. Man musste Propaganda machen, dass die Italiener so glücklich waren in Deutschland. Das sah man doch an der Bianca, wie sie immer lachte.
Aber dass mein Herz weinte vor Heimweh, das sah keiner.
Eine Arbeiterfamilie hatte Mitleid mit uns und schenkte uns ein altes Grammophon mit einer ganz grossen Röhre und ein paar Platten dazu. Der Josef spielte es gerne. Ihm gefiel am besten "O Donna Clara ..."
Dann kam wieder ein Brief von der Anneliese. Sie schrieb, wir sollten nach Lüneburg kommen. Ihre Eltern möchten uns kennenlernen, es könne uns sicher jemand begleiten. Ich gab den Brief wieder dem Nachbarn zum Lesen - er hiess Ludwig. Schlecht und recht hatten wir verstanden, dass er uns am Sonntag mit dem Zug zu der Anneliese begleiten wollte.
Ich freute mich, die schöne Anneliese wiederzusehen und auch ihre Eltern. Der Tag war voller Sonne. Die Athmosphäre in dem Zug war lustig. Der Ludwig sagte den Mitfahrern, dass wir Italiener gut singen könnten. Da musste der Josef mit seiner Tenorstimme das bekannte Lied "O sole mio" singen.
In der Stadt angelangt suchten wir die angegebene Strasse, die auch gut zu finden  war: "Am Sande" im Zentrum von Lüneburg. Als wir in das vornehme Haus kamen, waren wir nicht mehr lustig. Wir bekamen einer Art Panik, das Gefühl, dass wir da nicht hineinpassten. Ein nettes Mädchen mit einer kleinen Schürze um die Taille nahm uns in Empfang. Der Ludwig sprach für uns, sagte ihr, wer wir seien und sie ging uns melden. Nach einer kleinen Weile kam die Frau Klingner an die Türe und hiess uns herein kommen. Sie war sehr freundlich und der Vater von der Anneliese auch. Ich schätzte sie ungefähr um die 50 Jahre alt. Ich war ganz unruhig, denn von der Anneliese war noch nichts zu sehen. Nach einer Weile kam ein grosses Fräulein herein, fein und schön, aber ich kannte sie nicht.
Der Bruder schaute mich ängstlich an und meinte, wir seien sicher am falschen Ort, das sei nicht sie, die wir gesehen hätten am Abend unserer Ankunft. Aber wir schwiegen, denn wir konnten kein Deutsch. Endlich kam die Anneliese herein.
Da schlug mein Herz ganz anders. Der Ludwig hatte uns doch zum richtigen Ort geführt.
Wir wurden gross bewirtet mit aller Herzlichkeit. Anneliese und ihre Schwester Henny nahmen mich mit in die Stadt. Dort war an dem Tag der grosse Jahrmarkt.
Es waren viele Buden und Stände und an einem Stand mit Süssigkeiten kauften sie mir ein grosses Herz aus Kuchen mit einem roten Samtbändel daran und hängten es mir um den Hals, sicher als Zeichen der Liebe oder Sympathie zu mir. Der Ludwig und der Josef gingen mit dem Schatz Anneliese die Kasernen von Lüneburg besichtigen, weil sie vernommen hatten, dass auch der Josef 18 Monate lang Soldat in der Artillerie in Italien gewesen sei.
Der Abend kam und wir mussten Abschied nehmen von den lieben Leuten. Anneliese brachte uns mit einer dunkelgrünen Limousine zum Bahnhof und sagte, dass sie uns einmal in Süttorf besuchen würde mit der ganzen Familie.
Die Heimreise war nicht mehr so lustig, denn wir waren noch sehr benommen von dem Erlebnis in der guten Familie. Die Leute gaben mir auch warme Kleider in der Meinung, dass ich nicht erkranken sollte. Dort war das Klima rauher als bei uns in der Po-Ebene. Die Fürsorge, die sie für mich hatten, werde ich nicht mehr vergessen so lange ich zu leben habe. Zwar wird das auch nicht mehr so lange sein, denn anfangs 2000 werde ich 80 Jahre alt.
Ich muss schon sagen, dass mir dort nur gute Leute begegnet sind. Auch Familie Brammer war nicht schlecht zu uns. Sie waren gewohnt, Distanz zu halten gegenüber den Arbeitern, es war so in der ganzen Welt: Der Arme immer unterdrückt. Das sollte jeder Emigrant wissen. Andere Länder haben andere Sitten, andere Gewohnheiten und das muss man respektieren. So kommt man am besten vorwärts.
Die Zeit verging. Das Wetter besserte sich, es wurde wärmer im Lande und wir konnten auf die Felder arbeiten gehn. Der Josef war unermüdlich. Gewisse Arbeiten nahmen wir im Akkord auf, damit wir ein paar Mark mehr verdienen konnten. Das ging nicht nur bis 19 Uhr, sondern bis es dunkel wurde.
Unser Nachbar hatte es nicht versäumt, Herrn Klingner zu erzählen, dass wir sehr primitiv wohnen mussten und ich nicht einmal Licht hatte in meinem Zimmer. Annelieses Vater besass ein Elektro-Unternehmen und eines Tages kam er nach Süttorf und installierte Licht in meinem Zimmer - sogar eine Nachttischlampe. Da ich keinen Nachttisch hatte, machte ich mir einen aus alten Backsteinen. Wie war ich glücklich - so konnte ich in der Nacht Deutsch lernen.
Langsam verging auch der Sommer. Im November ging der Werkvertrag zu Ende, wir hätten nach Hause können, aber unser Patron überredete uns, auch im Winter zu bleiben. Er sorgte schon dafür, dass unser Vertrag verlängert wurde!
Er konnte das schon machen, er war ja in der Partei! Wir überlegten uns, dass es nicht rentierte, sechs Monate in Italien ohne Arbeit zu sein. Bis dahin hätten wir unseren Verdienst verbraucht und mussten von vorne wieder anfangen. So waren wir geblieben unter der Bedingung, nicht mehr Holz spalten zu müssen.
In den Scheunen war genug Roggen aufgestapelt zum Dreschen, Säcke zum Flicken und sonst allerlei zu machen.
Wie gesagt, anfangs November sammelten sich unsere Kameraden wieder in Lüneburg zur Abfahrt in die Heimat. In dem grossen Saal wurde gegessen und getanzt, geredet auch, denn jeder wollte seine Erlebnisse preisgeben. Eine Dame spielte Klavier. Sie fragte mich, ob ich etwas singen könnte. Da ich schon so gut Deutsch gelernt hatte in den sieben Monaten Aufenthalt in Süttorf hatte ich den neuesten Schlager auswendig gelernt: Fahre mich in die Ferne mein blonder Matrose. Der Beifall war gross und viele kleine Geschenke hat man mir gegeben.
Das war für mich ein Trost, damit der Abschied von den anderen nicht mehr so schwer fallen sollte. Sie fuhren wieder in die Heimat und wir blieben zurück.
Der Winter kam und es wurde sehr kalt im Land. Aber ich hatte mir einen warmen Mantel gekauft und gute Sportschuhe. Dazumal waren Stiefel noch nicht "in" für Frauen. Weihnachten kam, ich wurde eingeladen bei der Familie Klingner, wo ich auch beschenkt wurde. Der Josef wollte lieber zu Hause bleiben: Er war dem Grammophon treu.
Wohl oder übel überstanden wir auch den Winter ohne krank zu werden. Ich muss schon sagen, dass wir trotz allem eine starke Natur hatten. Der Sommer ging auch so wie immer vorbei, die Kartoffelernte war das Schwerste, aber da kamen die Soldaten des Arbeitsdienstes zu Hilfe. Die Bäuerinnen gaben sich wohl Mühe, brachten jeden Nachmittag Wäschekörbe voller Kuchen aufs Feld, worauf ich mich immer freute. Auch wir arbeiteten schwer - sogar im Akkord - aber ausser unseren kargen Portionen gabs nie etwas extra, denn die regierende Mutter Brammer war sehr geizig.
Im September 1939 gab es eine grosse Überraschung: Der Krieg war ausgebrochen, der Hitler hatte sich Polen genommen. Es hiess Polen-Korridor. Das war ein kurzer Kampf: 17 Tage hatte die Schlacht gedauert. Kein Wunder, was hätte Polen so unverhofft gegen ein deutsches Reich machen können.
Das grosse Elend fing an: Der Führer wusste, dass sich in Polen die meisten Juden aufhielten und sein Ziel war von Anfang an, dieses Volk zu vernichten. Die Vernichtungslager waren schon vorbereitet sowie die Gasöfen, Verbrennungsanlagen und anderen undenkbar verbrecherischen Methoden. So dachte er, die könnten ihm nicht mehr gefährlich werden.
Er fühlte sich so mächtig, dass er nach kurzer Zeit - ohne Kriegserklärung - ein Land nach dem anderen in seine Gewalt nahm. Zwei polnische Gefangene wurden auch dem Herrn Brammer zugeteilt. Das passte uns, denn wir hatten im Sinn, die Arbeitsstelle zu wechseln. Wir hatten dafür keine anderen Gründe, als zu einem Bauern zu kommen, bei dem wir nicht mehr selber Kochen mussten.
Das Arbeitsamt hatte uns eine Stelle gefunden in der Nähe von Lüneburg bei Herrn Fritz Gellermann in Dachmissen.
Unser Chef liess uns nicht gerne gehen, anderseits konnte er es uns nicht verbieten. Unser Vertrag ging im November zu Ende und wir arbeiteten bis zum letzten Tag. Die Trennung von dem guten Ludwig und seiner Familie fiel mir sehr schwer. Sie waren gute Kameraden geworden, aber sie begriffen auch unsere Situation.
Unsere zwei Koffer waren wieder unsere treuen Begleiter, unser Verdienst war nicht schwer zu tragen, denn wir hatten unseren Lohn immer nach Hause geschickt.
In Lüneburg wartete unser neuer Chef mit Ross und Wagen. Es war aber allerlei auf dem Vehikel. Mit Mühe und Not konnten wir darauf sitzen. Der Bauer war nicht allein gekommen: Er hatte einen schönen jungen Mann mitgenommen. Er wurde uns vorgestellt als Paul, der Melker. Er war grösser als ich, denn ich war 167 cm gross, sein schöner Haarschnitt gefiel mir und seine rosaroten Wangen auch. Er schien so gesund. Ich schätzte ihn um die 26-27 Jahre alt - ich war 20. Unterwegs sprachen wir viel miteinander. So gefiel er mir immer besser, aber dass er eines Tages mein Mann werden sollte, sowas dachte ich noch nicht.
Angekommen, wurden wir freundlich von der Bäuerin begrüsst. Sie war mir sofort symphatisch. Sie hatte schon graues Haar, aber noch junge Kinder. Deshalb war sie sicher nicht viel älter als 40. Ich hatte nicht viel Mühe, mich anzupassen, denn mein Herz war voller Liebe für den Nächsten. Die Arbeit war so schwer wie vorher, aber Holz spalten musste ich nicht mehr.
Das Schlafzimmer war nicht leid. Das Bett war nicht mehr mit Stroh gefüllt. Licht war vorhanden, ein Schrank für Kleider auch, nur das Fenster durfte nicht lange offenbleiben, denn gerade davor lagerte der Kuhstall-Mist. Das Zimmer wurde nur mit einer dünnen Wand vom Kuhstall getrennt.
Die Zeit verging. Inzwischen durften wir 4 Wochen nach Hause. Es war ein grosses Ereignis, wieder in der Heimat zu sein.
Mit der Zeit verbreitete sich der Krieg immer mehr. Mein anderer Bruder Luigi war nicht mehr zu Hause. Er war eingezogen worden als Soldat nach Afrika. Was der Duce dort wollte weiss ich heute noch nicht, nur dass viele ihr Leben in der Wüste lassen mussten und die anderen halb krank und verdurstet zurückkamen, während Afrika blieb wie es war.
Hitler schickte auch den General Rommel mit seinen Truppen dorthin. Die deutschen Soldaten waren bekannt als gute Krieger. Doch nach etlichen Verlusten kamen auch nicht mehr alle zurück. Der General Rommel kam zurück, musste aber sterben wegen der Niederlage. In Europa ging es nicht mehr so gut: Die Feinde kamen immer öfter in der Nacht, ihre Bomben vom Himmel herabzulassen.
Die Angst in der Bevölkerung stieg, aber man durfte es nicht zeigen. Sonst wäre es nicht gut gewesen. Man durfte auch nicht mehr mit dem "Guten Tag" grüssen, es galt nur noch "Heil Hitler". Wehe dem, wenn nicht. Ja, er verstand es, sich fürchten zu lassen, denn er drohte für jedes krumme Wort gegen ihn mit dem Tod. Er machte das nicht selber, nein, nein. Dafür sorgte die Gestapo - und dass die Vernichtungslager nie leer wurden!
Es war nicht nur Auschwitz der Mittelpunkt der Vernichtung. Es allein hätte nie schaffen können, so viele Menschen zu töten. Es ging in die Millionen: Alt, jung, gross und klein ohne Urteil.
Dazumal wussten wir noch nichts von alledem. Wir hatten kein Radio und es war auch verboten: Man durfte nur die Siege vernehmen, denn die Leute durften auch nicht reden darüber. Jeder hatte Angst davor, vom anderen angezeigt zu werden.
Eine gute Frau vom Dorf bot mir italienisches Brot an - es war 1944 - und ich fragte sie, wo sie das her hatte. Da fing sie an zu zittern: Ich sollte sie ja nicht verraten, sie habe zwei kleine Kinder. Ich gab ihr mein Wort zu schweigen, aber ich verstand immer noch nicht, um was es ging. Endlich sagte sie mir, dass ihr Mann bei der Bahn arbeite und mit den Zügen voller Juden nach Auschwitz fahre und diese gäben ihr letztes Stück Brot, wenn er dem Einen oder Anderen zur Flucht verhelfe. Ich - ganz unwissend - fragte, was die dort wollten. Sie sagte mir: "Sie müssen, sie werden mit Gewalt dorthin gebracht und kommen nicht mehr zurück." Ich fragte, ob alle aus Italien kämen. "Nein", sagte sie, "von allen Ländern und nicht alle Züge fahren an den gleichen Ort. Es gibt viele solche Lager im Reich Deutschland."
Nach diesem Schreck wollte ich das Brot auch nicht mehr. Sie sollte ihre Kinder sättigen damit.
Zurück zu mir: 1942 haben wir doch geheiratet, der Paul und ich. Mein Bruder Josef gab seine Einwilligung, denn er fand, dass er der richtige Mann für mich sein könnte. Ich fand ihn auch einen ganz feinen Menschen, aber die Angst, dass auch er in den Krieg eingezogen würde, war immer in mir. Er aber war der festen Meinung, seine Kühe nicht verlassen zu müssen, denn die Milch war sehr wichtig für die Bevölkerung.
Es ging lange, bis wir die nötigen Papiere bekamen. Die Behörden wollten genau wissen, ob wir die arische Abstammung hätten. Beide hatten wir den katholischen Glauben.
Die Bauern schmückten eine Droschke mit grünen Tannenästen und – zwei stolze Pferde davor - fuhren wir in Begleitung von Bruder Josef und Schwester Emma nach Lüneburg in die katholische Kirche zur Trauung. Der Josef durfte nicht weinen - er war ja ein Mann, aber die Emma konnte die Tränen nicht verbergen. Sie verlor mich nicht gerne. Deshalb kam sie auch zu unserem Bauern: Um in meiner Nähe zu sein. Ich war 18 Monate jünger als sie und doch ihre führende Hand. Da sie Schneiderin war, hatte sie mir ein schönes Hochzeitskleid gemacht, alles von Hand, denn Maschinen hatten wir keine.
Zum Feiern reichten die Lebensmittel nicht, um lustig zu sein war die Zeit nicht geeignet. Zwei Neffen von Paul waren schon gefallen und andere schwer verwundet. Viel Trauer war schon in der Verwandtschaft von meinem Mann.
Man hatte uns zehn Tage Urlaub gegeben und so machten wir die Hochzeitsreise nach Berlin zu der Schwester Rosa vom Paul. Die erste Nacht verbrachten wir in einem Keller, da die feindlichen Flieger mit ihren Bomben wüteten über der Hauptstadt Deutschlands. Die restlichen Tage hatten wir Ruhe. So zeigte mir mein Mann die schöne Stadt: Da war sie noch nicht in den Boden gestampft. Ich fand sie sehr schön.
Die paar Tage vergingen sehr schnell und wir kamen mit dem Zug wieder zurück nach Dachmissen. Wie gewohnt nahmen wir unsere Arbeit wieder auf. Wohnung hatten wir keine, Möbel auch nicht. Sowas gabs nicht mehr zu kaufen. Aber unsere Liebe konnte niemand verbieten.
Meine Schwester war nicht so stark für die Arbeit auf dem Land, so ging sie nach Lüneburg als Schneiderin in ein grosses Geschäft. Der Krieg verbreitete sich immer mehr und damit wurden auch mehr Männer eingezogen, so dass die Angst in uns von Tag zu Tag stärker wurde bis eines Tages der Befehl kam und auch mein Paul in den Kampf musste wie alle andern.
Er kam aus Oberschlesien und dort sollte ich hin: Er wollte nicht mehr, dass ich so schwer arbeiten musste. Sein Bruder hatte mich aufgenommen in seiner Gärtnerei als Gehilfin. Dafür gab er mir ein Dachzimmer als Unterkunft.
Herzzerreissend war der Abschied von allen meinen lieben Leuten. Ich fuhr alleine nach Oberschlesien. Mein Ziel war Oppeln an der Oder.
Eine Nichte von meinem Mann wartete auf dem Bahnhof auf mich. Sie stand oben auf der Ausgangstreppe. Ich kannte sie nicht, sie mich auch nicht, aber ich dachte sofort: "Das ist sie!" Ich wollte sie ansprechen, aber sie liess mich nicht reden, denn sie wartete auf eine kleine Italienerin mit schwarzen Haaren. "Dann heissen Sie Trudi" sagte ich. Sie vergass den Mund zuzumachen. Ich war grösser und hatte braunes Haar. Die anderen Verwandten warteten im Wartesaal auf mich. Die Begrüssung war herzlich, dann sprachen sie polnisch miteinander und gingen ihrer Wege. Der Schwager Johann nahm meinen Koffer und wir gingen ein paar Kilometer zu Fuss bis zu dem Dorf, wo er wohnte. Die Gegend war mir fremd, die Leute auch. Ich kam mir so verloren vor: Wenn ich ein Vogel gewesen wäre, hätte ich die Flügel ausgespannt und wäre sofort davongeflogen.
Es hatte geheissen, so lange ich keine Gelegenheit hatte zum Kochen sollte ich bei ihnen essen. Nach zwei Tagen sagte mir die Schwägerin, von nun an sollte ich alleine essen, denn ihre Kinder fühlten sich nicht wohl in meiner Anwesenheit. Wenn ich sie etwas fragte, gaben sie mir immer schnippische Antworten. Kurz und gut, sie mochten mich nicht - von Anfang an.
War sie vielleicht eifersüchtig? Ich hatte ihr nie Anlass gegeben dazu, mir hatte man nie etwas anvertraut, auch nicht, dass sie ein Kind erwarte. Da sie immer weite polnische Trachten trug, bemerkte ich nie etwas. Nach neun Monaten, an einem schönen Morgen, schickte man mich mit ihrer kleinen Tochter aus dem Haus zum Spielen. Das war das erste Mal, dass die 5jährige Anna mit mir gehen durfte. Wir blieben nicht weit vom Haus bis man uns rief.
Man präsentierte uns das kleine Wesen in einem Kissen. Ich war so überrascht, dass ich kein Wort sagen konnte. Ich ging in mein Zimmer und weinte lange, denn ich war sehr beleidigt. Ich fühlte mich zurückgesetzt, wie ein Kind. Ich wusste, dass sie sehr traurige Zeiten hinter sich hatten, weil ihr erster Sohn im Krieg gefallen war. Er war als Matrose auf dem grossen Schiff "Bismarck". In 5tägigem Kampf gegen die Engländer wurde es zusammen mit der ganzen Besatzung versenkt. Deswegen hatte ich immer alles verziehen.
Mein Paul schrieb jede Woche ununterbrochen. Ich vernahm, dass er bei den Pionieren zugeteilt wurde und 6 Monate ausbildungshalber in Norddeutschland blieb. Später kam er mit den anderen Soldaten nach Dänemark. Der Krieg wucherte immer weiter, an ein Ende war nicht zu denken.
Meine Schwester wollte zu mir ziehen, alleine kam sie nicht zurecht. Aber vorher kam mein Mann 10 Tage in Urlaub. Wie war es schön, mal wieder zusammen zu sein. Leider vergingen diese Tage viel zu schnell. Wir wurden von allen seinen Schwestern eingeladen, sogar die Schwägerin zeigte ihre beste Seite. Ich war sprachlos. Der Tag kam, wo er wieder gehen musste. Wir waren beide sehr traurig. Ich begleitete ihn bis zum Bahnhof in Oppeln. Unterwegs blieb er stehen. Er glaubte, Klebstoff unter den Schuhen zu haben. Seine Füsse wollten nicht weiter. Ob er schon ahnte, dass er nie mehr zurückkommen würde?
Auf dem Bahnhof angekommen mussten wir nicht lange warten: Der Zug kam und war so voll von Soldaten, dass Paul nicht in den Wagen hinein konnte. Er hielt sich an der Türstange fest und winkte mir mit der freien Hand zu bis der Zug um die Kurve verschwand. Von da an hatte ich ihn nie mehr gesehen.
Es ging nicht lange bis der erste Brief kam. Es tröstete mich sehr, seine Zeilen wieder zu lesen. Er schrieb, dass ich mir nicht grosse Sorgen machen sollte. Solange er in Dänemark bleiben konnte bestand keine Gefahr.
Eines Tages bekam ich einen Brief von einem Unbekannten woraus ich erfuhr, dass mein Bruder Luigi in einem kleinen Dorf bei Leipzig in deutscher Gefangenschaft sei. Ich war sehr betroffen von dieser schlechten Nachricht. Derjenige schrieb auch, dass er schwer arbeiten musste in einer Zuckerrübenfabrik und am Ende seiner Kräfte war aus Mangel an Ernährung.
Die Schwester und ich kratzten alles zusammen was wir konnten: Lebensmittel und warme Kleider. Der Zug brachte uns bis Leipzig. Dann mussten wir noch lange Laufen bis zu dem Lager. Es wurde Abend bis wir ankamen und die Gefangenen fassten gerade ihr Nachtessen, bestehend aus drei gekochten Kartoffeln in einer Büchse. Wir weinten alle drei auf unser Wiedersehen. Ich hätte nie geglaubt, dass die beiden Länder Feinde würden. Mit der Zeit hatte der Mussolini eingesehen, dass die Methoden von Hitler gegen die Menschheit zu grausam waren.
Es könnte auch sein, dass politische Gründe schuld daran waren, dass die Freundschaft der beiden auseinanderging. Ich war noch zu jung, um die politische Situation zu verstehen. Ich verstand nur, dass das grosse Elend immer grösser wurde.
Am Ende des Krieges wurden die Gefangenen entlassen. Der Luigi konnte wieder nach hause. Er war seelisch sehr krank geworden, er wurde sehr depressiv. Dazumal gab es auch keine Mittel dagegen, so dass er nach ein paar Jahren starb.
Die Deutschen bombardierten Italien der Wette nach, die Engländer bombten Deutschland zu Boden. Es fehlte gerade noch, dass Hitler Russland holen wollte. Das sah auch ein Laie, dass man von Sieg nicht mehr reden konnte. Aber der Führer war sicher im Geheimen zufrieden, dass seine Soldaten bis Leningrad vorstossen konnten. Nach grossen Kämpfen und vielen Toten brachten es die Engländer fertig in der Normandie zu landen, so dass sie durch Frankreich vorstossen konnten. Hitler konnte nicht mehr Leute einziehen, denn die 14jährigen Kinder waren auch schon zur Hilfe des Sieges eingezogen worden.
Ein Neffe meines Mannes durfte von der Ostfront nach Hause, weil er nur noch ein Bein hatte. Er war 22 Jahre alt. Ja was der Alfons erzählen konnte, da standen einem die Haare zu Berge. Er sagte auch, dass die vielen Toten nicht alle im Kampf gefallen seien, sondern auch in der russischen Kälte erfroren.
Man vernahm, dass die Generäle Hitler Meldung machten, sich zu ergeben, denn der Nachschub klappte nicht mehr, die Verwundeten konnten nicht mehr versorgt werden wegen Mangel an Medikamenten und Verbandstoffen und die Lebensmittel wurden knapper von Tag zu Tag. Aber der Führer gab Meldung zurück, dass man weiterkämpfen sollte bis auf den letzten Mann. Er konnte gut reden, denn er war nicht dabei. Er hielt sich gerne in Sicherheit in der warmen Stube auf und träumte sicher immer noch von dem grossen Sieg, auf Kosten von Deutschlands Volk. Er beweinte sicher nicht die vielen Mütter, deren Söhne nie wieder zurück kamen, die vielen Frauen, deren Männer auf den Schlachtfeldern fielen und die mit ihren Kindern sehen mussten, wie es weiter gehen konnte.
Auch ich wurde eine der Frauen, die weinte über den Tod meines Mannes.
Plötzlich brachen die Russen durch die höllische Front und kamen Richtung Westen. Wir Frauen mussten drei Mal in der Woche Laufgräben ausschachten, auch Gräben gegen die Panzer. Die mussten viel breiter und tiefer sein. Zwei SS-Männer mit grossen Hunden bewachten uns, denn es sollte schnell gehen, weil die Russen schon gegen Polen zogen. Es war 1944, die Lage wurde immer schlechter. Die Lebensmittelzuteilung nahm immer mehr ab. Ich hatte vernommen, dass es irgendwo eine an Obst reiche Gegend gäbe, aber man musste mit dem Zug fahren.
Meine Schwester und ich machten uns auf den Weg. In dem Dorf angelangt klopften wir jedes Haus ab. Überall die gleiche Anrwort, es kämen so viele Leute jeden Tag zum Betteln, dass sie nichts mehr geben könnten. Ich gab nicht auf, die Emma konnte nicht mehr weiter. Sie setzte sich unter einen grossen Nussbaum am Strassenrand und sagte, dass ich weiter probieren könne. Sie hätte nicht mehr die Courage dazu. So ging ich zu einer Bauernfamilie. Dort ertönte wieder das gleiche Lied: "Wir haben auch nichts mehr." Ich gab noch nicht auf, fragte ganz bescheiden, ob sie auch nichts hätten für die arme Italienerin, die ganz erschöpft unter dem Nussbaum liege. "Sofort her mit ihr" sagte der Bauer. Ich ging sie holen in der Hoffnung, dass sie mehr Glück hätte als ich. Wie wir beide zurückkamen lag eine italienische Landkarte auf dem Tisch ausgebreitet. Wir mussten ihnen zeigen, wo wir herkamen. Bei Parma, sagte die Bäuerin unter Tränen, sei ihr Sohn als Soldat begraben und wenn wir versprächen, einmal sein Grab aufzusuchen und ein paar Blumen darauf zu legen, wären sie uns sehr dankbar. Ja, wir gaben ihnen das Wort.
Aber es dauerte noch lange, bis wir nach Italien zurück konnten. Wie wir uns von ihnen verabschiedet hatten, waren unsere Hände nicht mehr so leer wie als wir gekommen waren: Sie gaben uns eine ganze Henne, Eier, Butter, Mehl und vieles mehr. Wir sollten auch nicht mehr auf den gleichen Bahnhof gehen, denn dort waren Wachen aufgestellt, die uns alles weggenommen hätten. So mussten wir über Wiesen und Felder gehen zu einer anderen Station, um auf den Zug zu steigen, der uns nach Hause brachte.
Wir hatten die guten Leute nicht vergessen, aber bis wir nach Italien konnten vergingen noch zwei Jahre. In der Zeit passierte noch viel: In der Nacht waren wir nirgends sicher, die Engländer avancierten in Frankreich, mehr noch die Russen in Polen. So wurde Deutschland von allen Seiten bombardiert. Wir mussten die Hölle aushalten und schweigen.
Im Sommer 1944 schrieb mir ein Verwandter aus Auschwitz, er wäre dort als Maurer. Er war weder Gefangener noch frei. Aber jetzt wollte er nach Hause zu seiner Familie, denn er konnte das unmenschliche Geschehen nicht mehr ansehen.
Ohne von alledem zu wissen machte ich mich an einem Sonntag auf den Weg dorthin. Von Oppeln aus mit dem Zug war es gar nicht sehr weit. Auf dem Bahnhof kaufte ich eine Fahrkarte nach Auschwitz und zurück und erwähnte dabei, dass ich am Abend wieder zurückkommen wollte. Der Bahnbeamte schaute sich um ob niemand zuhören könne, dann sagte er: "Sie sind viel zu schade für dort hin." Ich begriff immer noch nicht, was er meinte.
In Auschwitz angekommen musste ich in einen Bus, der auch beim Lager 7 anhielt. Dort konnte ich aussteigen. Während der Fahrt bekam ich ein furchtbares Bild zu sehen: Eine lange Kolonne in gestreiften Kleidern mit kahl rasierten Köpfen ging durch die Strassen, getrieben wie die Schafe von uniformierten Männern mit Waffen und Gummiknüppeln. Wenn einer nicht mehr Schritt halten konnte und zu Boden fiel, wurde er gepeitscht, bis er gar nicht mehr aufstehen konnte. Dann wurden zwei andere gepeitscht, die ihn mitschleifen wollten und dieser Barbar in der braunen Uniform mit dem Hakenkreuz auf dem Ärmel zeigte noch seinen Stolz darüber, dass er sowas vollbrachte. Die Kolonne sollte die ganze Breite der Strasse benutzen, damit der Bus hinterherfahren musste. So konnten die Fahrgäste zuschauen, wie der mit den armen Menschen umging. Ab und zu schlug er die Peitsche gegen seine blanken Stiefel, damit die gestreiften Silhouetten ja nicht vergässen, dass er seine Peitsche noch benützen wollte.
Plötzlich kam mir der Mann auf dem Bahnhof von Oppeln in den Sinn, wie er sagte, "das sehen wir dann noch, ob Sie am Abend wieder zurück kommen". Aber er durfte mich nicht warnen, ich hätte ja eine Agentin sein können. Es wäre für ihn nicht gut gewesen.
Gedacht hatte er ganz sicher, dass die anderen mit Gewalt nach Auschwitz mussten - "und sie geht freiwillig in den Rachen des Löwen!" Ich traute meinen Augen nicht mehr, meine Beine zitterten. Einen Moment lang glaubte ich auch, mein Herz bleibe stehen. Der Bus hielt an, ich durfte aussteigen vor dem Lager 7. Eine Wache stand davor.
Ich fragte freundlich nach dem Nino Pancini und ob ich zu ihm dürfe. Er stellte mir viele Fragen. Unter anderem vernahm er, dass ich jetzt auch eine deutsche Frau sei und mein Mann sei an der Front und kämpfe für den Sieg. Ich ging mit dieser Methode vor, damit er weich werde: Das hatte auch geklappt, denn er ging den Nino holen.
Ich hatte zwar nicht gelogen, aber dass mein Mann gerne für den Sieg kämpfte war gar nicht der Fall, denn er war sehr gegen die Massaker, die der Hitler veranlasste. Jeder vernünftige Mensch sah, dass der Führer ein grosser Fanatiker war: Einer ohne Studium, der seine Träume in Wahrheit verwandelte, indem er das deutsche Volk im richtigen Moment verblendete mit seinen Versprechungen.
Im Jahre 1938 waren die deutschen Arbeiter gerade so arm wie überall. Für Hitler war es sehr günstig, sich an seinen Paraden bejubeln zu lassen...
Also der Nino kam durften wir das Lager 7 verlassen. Das erste, was er mir zeigen wollte war das neue Lager "Herman Göring", das noch nicht ganz fertiggestellt war. Ich sah ganz dicke Mauern, kleine Eingänge, aber kein Dach. Ich fragte: "Wozu soll das dienen?" Die Antwort lautete: "Für wilde Tiere aus den zoologischen Gärten: Damit sie nicht verhungern müssen, werden sie mit lebendigen Menschen gefüttert."
Ich schäme mich, das niederzuschreiben. Ich sagte zum Nino: "Du hast mich herkommen lassen, um solch furchtbare Sachen zu sehen?" Er meinte, dass ich Zeuge sein werde, wenn er in Italien breitschlage, zu was allem die Menschheit fähig sei. Man möchte ihm nicht glauben.
Nicht nur in Italien, sondern in der ganzen Welt soll man davon wissen. Ja, heute haben schon viele Leute die Grausamkeiten durch Filme gesehen. Noch nicht alle glauben daran, aber die Wirklichkeit kann man nicht umgehen.
Nachdem mein Vetter erzählt hatte, was dort getrieben wurde, bekam ich Angst und wollte sofort nach hause. Wir hatten beide das Gleiche im Sinn: Nur weg von hier!
Kaum auf dem Bahnhof angekommen, nahm uns ein SS-Mann in die Zange. Er hielt einen grossen Hund an der Leine, verlangte unsere Papiere und fragte, was für eine Sprache wir sprächen. Wir sagten, "italienisch". Indem er uns unsere Pässe zurückgab sagte er, dass die Maccaroni auch werden deutsch lernen müssen. Dann ging er weiter. Damit meinte er, dass auch Italien bald ihnen gehören würde.
Endlich kam ein Zug von Polen mit Weiterfahrt nach München. Durch die Tür kam Nino nicht hinein, denn dort war alles voller Soldaten. Es blieb nur der Einstieg durch ein Fenster: Von innen zogen ihn die Soldaten hinauf, von aussen half ich so gut ich konnte. Schlecht und recht kam er doch noch zu hause an.
Mit dem nächstbesten Zug kam auch ich - spät in der Nacht - nach Hause. Ich war sehr müde und konnte trotzdem nicht schlafen, weil die Ereignisse des Tages mich sehr erschrocken hatten: Ich hatte immer noch die gestreifte Kolonne vor Augen.
Während wir auf den Zug gewartet hatten, konnte der Nino von all den Grausamkeiten erzählen, die sie in den Lagern gegenüber den Juden fertigbrachten. Er hatte nicht übertrieben: 1945 trafen wir in einem russischen Lager drei Mädchen aus Griechenland und eine Frau aus Turin (Italien). Sie hatten keine Haare, eingesunkene ängstliche Augen und sassen immer am Boden. Zum Stehen hatten sie noch keine Kraft. Sie brauchten gar nichts zu sagen. Ihre Erscheinung sagte mehr als genug, denn ihre Gestalten hatten noch die Form eines Skeletts. Ein paar italienische Gastarbeiter hatten sie anfangs des Jahres 1945 auf dem Haufen der Toten gefunden. Da sie noch atmeten nahmen sie sie mit. Es lag schon Schnee am Boden. Sie wurden auf Bretter gelegt, durch die verschneite Strasse gezogen und wieder ins Leben gebracht. Das war eine gute Tat. Die Frau aus Turin war an die Nazis denunziert worden für dreitausend Lire. Ihr wurde das Kind zu Tode malträtiert. Sie muss so geweint haben, dass ihre Tränenkanäle sich nicht mehr verschlossen. Sie hatte immer ein nasses Gesicht von dem Augenwasser. Ich schätzte sie um die 40 Jahre alt, eine schöne Person und sehr gebildet.
1944 bekam ich auch kein Zeichen mehr von meinem Mann. Mir war nicht mehr wohl. Ich ahnte nichts Gutes. Meine Nichte Steffi, etwa 13 Jahre alt, kam von der Schule heim. Sie sagte zu ihrer Mutter, dass sie in der Schule vernommen habe, dass wieder einer gefallen sei, der auch Marbach heisse. Meine Schwägerin dachte, es sei nur ein Gerede oder eine Verwechslung, da ihr Sohn vor kurzem gefallen war und auch Marbach hiess. Leider ging es doch um meinen lieben Paul: Er war noch jung, denn mit 33 ist man noch nicht alt. Nach zehn Tagen wurde für ihn eine Messe gelesen. In der Kirche wurde ein leerer Sarg aufgestellt. 6 Soldaten standen als Ehrengarde stramm um ihn und ich liess meinen Tränen freien Lauf. Das war das Ende vom Ende, ich war ganz gebrochen.
Es war November und schon ziemlich kalt. Es fiel der erste Schnee und die Russen waren nicht mehr weit. Die Glocken auf dem Turm gaben den ersten Alarm zum Evakuieren, denn die Propaganda gegen die Bolschewiki war sehr furchterregend. Die Aufregung im Dorf war sehr gross und wir wussten nicht, was machen. Zur letzten Warnung wurden sogar Blashörner eingesetzt.
Es kamen Offiziere von der Armee und befahlen uns zu fliehen. Hauptsächlich junge Frauen und Schulmädchen, da die Vergewaltigung an der Tagesordnung sei. Irgenwie wollten die Russen sich auch rächen: Ihre Feinde waren noch brutaler mit den Menschen in ihrem Land.
Da bepackten wir beide unsere kleinen Schlitten mit Wolldecken und warmen Kleidern. Ich zog die Stiefel von meinem Mann an und mit schweren Herzen zogen auch wir mit dem Flüchtlingsstrom. Wohin, das fragte keiner, es hiess nur: Vorwärts! Der Name "Russe" wurde gar nicht mehr gebraucht. Es wurde nur vom Feind geredet unter der Wehrmacht. Auf den Strassen war das reinste Chaos. Die Soldaten mit ihren Lastwagen voller Munitionskisten kamen auch nicht mehr weiter. Die Leute hatten immer noch so viel Angst vor der Gestapo, dass sie nicht mal Fluchen konnten. Nur die Kinder durften noch Weinen.
Es wurde Januar 1945 - harte Kälte, verschneite Strassen, halbverhungerte Leute mit traurigen Gesichtern zogen ihr Schicksal mit sich und wir beide waren auch noch immer dabei. Problematisch wurden die Nächte: Man drückte sich gewöhnlich in der Nähe von Bahnhöfen herum. Wenn wir das Glück hatten, Viehwaggons auf Abstellgeleisen anzutreffen, waren wir froh.
Nur noch die Soldaten grüssten sich mit "Heil Hitler". Bei der Zivilbevölkerung hatte das stark abgenommen. Die Kälte tat mir nicht gut. Ich wurde krank. Der Schmerz wegen dem Tod meines Mannes gab nicht nach, Schwäche, Fieber und Husten nahmen immer mehr zu. Irgenwo hielten wir an. Mit Mühe fanden wir einen alten Arzt, der mich gratis untersuchte. Die Diagnose lautete: Lungenkrank. Ich war so erschrocken, dasss ich nicht mal Weinen konnte wegen diesem Bericht. Und doch glaubte ich nicht daran. Er gab mir Medizin und sagte, es sei noch alles, was er habe und wünschte mir alles Gute. Unter der Tür hörte ich ihn noch sagen: "Sie sind noch jung. Sie werden sicher noch gesund." Ich dankte ihm herzlich und ging wieder zu meiner Schwester, die auf mich wartete. Wir machten ein paar Tage Pause in einem kalten Viehwaggon. Ich musste mich ein wenig erholen.
Die russischen Kanonen donnerten immerzu. Die deutschen auch. Das Programm der Amerikaner und Engländer war offenbar, nachts zu Bombardieren. Manchmal war das reinste Inferno in der Gegend. Wir mussten weitermarschieren. Aber wir sangen nicht das gewohnte Lied der deutschen Soldaten: Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Dieses Lied hatte sicher der Führer komponiert.
Schliesslich kamen wir nach Reichenbach bei Bautzen. Dank meiner Schwäche wurden wir beide bei einem alten Ehepaar aufgenommen. Als ich sah, dass in der Wohnung lauter Hitlerbilder hingen, sagte ich leise zu meiner Schwester, sie solle mit dem Nazigruss eintreten, sonst bekämen wir kein Bett, denn ich sehnte mich so sehr danach, wieder einmal in etwas Warmem zu liegen.
Wir bekamen ein Bett für beide. So konnten wir einander wärmen. Am andern Tag sagte die Frau zu uns, fürs Essen sollten wir selber sorgen, sie habe auch nicht viel. Wir wanderten ein wenig durch die Stadt und vernahmen dort, ein Lazarett sei aufgestellt worden für die ersten Verwundeten. Vielleicht hätte man dort Hilfe brauchen können. So hätten wir auch zu Essen bekommen. Wir konnten es finden und der Oberarzt war froh um unsere angebotene Hilfe. Er zeigte uns die armen Verwundeten, die in einem sehr schlechten Zustande waren: Die einen hatten keine Arme, die andern keine Beine, viele mit Bauchschuss und noch viele weitere Leiden. Man hörte nur Schmerzensgeschrei.
Ich fragte sie, ob man ihre Angehörigen benachrichtigen solle. Niemand war dafür, dass ihre Leute ihren unvorstellbaren Zustand sehen sollten. Einmal wagte der Oberarzt zu sagen, "das haben wir dem Hitler zu verdanken". Auch seine Kollegen waren seiner Meinung. Drei Wochen konnten wir bleiben. In der Zeit starben viele, dafür kamen Neue; es war das reinste Chaos.
An einem Morgen kamen wir wie gewohnt. Da trafen wir ein Durcheinander. Alles war aufgeregt. Der Chef sagte uns, dass das Lazarett aufgelöst werde: Sie müssten fliehen. Die Russen seien schon in der Nähe. Er dankte uns für die Tapferkeit und die Hilfe. Er sagte uns auch, dass er uns nicht mitnehmen könne. Wir seien Zivilisten. Er könne für uns keine Verantwortung auf sich nehmen. "Und was wird mit uns", fragte die Emma. Dabei weinten wir wie noch nie.
Der Herr hatte ein weiches Herz und konnte uns nicht mehr abschlagen, mitzufahren. Er dachte sicher, es sei sowieso bald alles fertig. Er erlaubte uns, in dem grossen Bus mitzufahren. Die Lastwagen luden alles auf, was sie mitnehmen konnten, auch unser Gepäck. Wo die Patienten geblieben waren konnte ich nie erfahren.
Wir fuhren in Richtung Bautzen, sehr langsam, denn die Strassen waren verstopft vor lauter Flüchtlingen mit ihren Karren, Schlitten und Kinderwagen.
Am Mittag wurde eine Pause eingeschaltet. Es gab Verpflegung. Ein Arzt kletterte auf den Bus. Mit dem Fernglas suchte er die Gegend ab. Ganz aufgeregt sprang er vom Bus und schrie "Abfahren, alles liegenlassen, russische Panzer sind im Wald zu sehen". Wir flüchteten gegen Bautzen zu. Es wurde Abend und wir mussten uns verabschieden von all den Ärzten. Wir fragten nach unserem Schlitten. Keiner wusste etwas davon. Wir wussten nur, dass er auf einen Lastwagen geladen worden war. Der Oberarzt versprach uns, dass er für unser Gepäck besorgt sein werde. Am nächsten Tag sollten wir um genau 9 Uhr auf dem Platz in der Stadt sein. Dahin werde uns ein Lastwagenfahrer unsere Sachen bringen.
Irgendwo konnten wir schlafen gehen. Wie abgemacht waren wir pünktlich auf der Stelle. Der Soldat kam auch mit unserem Schlitten. Er gab uns ausserdem einen Karton. Den wollten wir nicht, denn er gehörte nicht zu unseren Sachen. Aber wir mussten ihn annehmen, denn ihn schickte uns der Oberarzt. Das Paket war voller Lebensmittel. Unsere Freude war gross.
Die ersten Tage hatten wir nun genug zu Essen.
Wieder mischten wir uns in den Wanderstrom. Es ging weiter bis Dresden. Die schöne Stadt war am Boden - in Schutt und Asche. Die Engländer hatten sie in einer einzigen Nacht mit ihren Bomben so zugerichtet. Es hatte vielen Menschen das Leben gekostet. Wie wir in die Stadt kamen sah man noch Leichen in der Elbe. Ich fragte mich, wo die Gerechtigkeit bleibe. Auch der Herrgott gab kein Zeichen von sich.
Es ging weiter gegen Meissen. Gesundheitlich ging es mir besser, aber wir wollten nicht mehr weiter. Dort konnten wir in der berühmten Porzellanfabrik auf mit Stroh belegtem Boden übernachten. Vom Staub hatten wir alle ganz geschwollene Augen.
Man hörte hier und dort, dass auf der Westseite der Elbe die Amerikaner angekommen seien. So wie alle anderen Flüchtlinge wollten wir auch dorthin.
Nach dreitägigem Aufenthalt kamen Bauern aus den Dörfern mit ihren landwirtschaftlichen Vehikeln und holten Leute, aber nur solche, die mitgehen wollten. Dort konnten sie bleiben, bis der Krieg zu Ende war. Nach den gegenwärtigen Verhältnissen konnte das nicht mehr lange dauern. Wir beide waren auch mitgefahren nach dem Dorf Heinitz und wurden von der Familie Fesel aufgenommen. Endlich hatten wir wieder ein Bett! Der Krieg dauerte noch drei Monate. In der Zeit gingen wir zu Leuten, die eine Schneiderin benötigten. Es war schliesslich unser Beruf. Wir wollten unseren Gastgebern nicht zu sehr zur Last fallen. Unser Angebot machte im Dorf die Runde, so dass wir überall Arbeit bekamen. Wir bekamen so genug zu Essen. Ruhe vor den Bomben hatten wir auch einige Zeit. Dafür donnerten die Kanonen immer näher.
Die Deutschen konnten der russischen Front nicht mehr standhalten. Die Bodenschlacht war nicht mehr zu beschreiben. Die Toten konnte man auch nicht mehr zählen. Ihre Kameraden hatten auch keine Zeit mehr, sie zu begraben. Wir Frauen mussten auf dem Dorffriedhof die Gräber ausschaufeln und die steif gewordenen Soldaten hineinlegen. Für einen Sarg war keine Zeit. Sie wurden in Plachen eingewickelt und wir mussten sie zu Dritt in ein Grab legen. Sie hatten auch keine Erkennungsmarke um den Hals. Die Inschrift auf den primitiven Holzkreuzen sollte lauten "Unbekannt".
Es wurde April 1945. Von den Amerikanern war keine Spur zu sehen. An einem Sonntag, es war Ende April, geschah folgendes: Meine Schwester liebte sehr die Natur. Sie fragte den Herrn Fesel, ob er ein Fernglas hätte, sie möchte gerne wissen, was für Vögel es gebe in der Umgebung. Statt Geflügel bekam sie ein ganz anderes Bild ins Fernrohr: Lauter Panzer mit Hammer und Sichel als Bezeichnung. Sie rannte so schnell sie konnte wieder nach Hause mit der Meldung: "Die Russen sind da!" Herr Fesel glaubte ihr nicht, aber Emma liess sich nicht von ihrer Aussage abbringen. Zuletzt hatte ihr der gute Mann doch geglaubt. Er alarmierte das ganze Dorf und wer Alkohol im Hause hätte, sollte alles ausleeren, denn wenn die Russen betrunken seien, wären sie auch nicht mehr zurechnungsfähig.
Man kann sich denken, in welcher Angst wir waren als die Panzer vor unsere Türen rollten. Die Soldaten inspizierten jedes Haus, ob deutsche Soldaten zu finden seien, aber sie fanden keine mehr.
In Heinitz machten sie Rast. Gegen Abend kamen 5 Soldaten. Einer war Lieutenant. Der kleinste Soldat trug eine halbe Sau auf der Achsel. Sie machten es sich im Hause Fesel gemütlich. Nachdem sie ihr Fleisch gebraten hatten, mussten wir alle auch mit ihnen essen. Sie tranken Wodka dazu. Man hätte meinen können, sie gehörten zur Familie. Ich muss noch erwähnen, dass die Familie Fesel aus Mann, Frau und einem 13jährigen Jungen bestand.
Der Abend zog sich in die Länge. Der Offizier war der Meinung, wir beide sollten Schlafen gehn. Voller Bange krochen wir samt unseren Kleidern in ein einziges Bett. Es ging nicht lange, kam der Offizier an unser Bett, ganz erstaunt, dass wir in den Kleidern lagen und zitterten. Er konnte gebrochen französisch. Da fragte er, was die Deutschen über sie erzählten, dass wir solche Angst vor den Russen hätten. Er sagte "Dobronotsch" und ging.
In jener Nacht hatte uns kein Mensch belästigt. Am andern Tag zogen sie weiter. Dafür kamen andere.
Viele Mongolen waren dabei und wüteten mit der Weiblichkeit ohne Unterschied zwischen alt und jung. Die Soldaten hatten uns noch nicht entdeckt. Es war höchste Zeit, uns zu verstecken. Der Chef wusste ein Plätzchen unter dem Dach neben dem Kamin. Mithilfe einer Leiter konnten wir beide unterkriechen. Der junge Alfred war unsere Wache vor dem Haus. Wenn die Luft rein war gab er Zeichen. Wir konnten zum Essen kommen, mussten aber schnell wieder unters Dach.
Am 5.Mai 1945 nahm der harte Krieg sein Ende. Man kann sich denken, wie die Freude der Russen gross war, nach Jahren harter Kämpfe Sieger geworden zu sein.
Sie jubelten, sangen und tranken von ihrem guten Wodka. Ich konnte mich gar nicht freuen, denn mein Paul kam nicht mehr zurück.
Eines nachts, drei Wochen waren wir versteckt, kamen Soldaten ins Haus und suchten uns. Vielleicht hatte uns jemand verraten. Sie wurden so böse als sie uns nicht fanden, dass sie drohten, Frau Fesel zu töten. Eventuell hatten sie zu viel getrunken. Dann gingen sie doch weg. Am andern Tag mussten wir das Dach verlassen. Fesels wollten nichts mehr riskieren wegen uns. Die Angst, die wir überstanden hatten war unermesslich.
Der Mai ging fast zu Ende, die Wärme nahm immer mehr zu und das lange Liegen Tag und Nacht wurde unerträglich. Die Stelle war zu niedrig als dass man stehen konnte. Wir kamen herunter.
Die drei Wochen Ferien dort oben hatten uns nicht gut getan: Wir hatten ein krankes Aussehen bekommen. Ich noch mehr als die Schwester. Das Haus war ein Doppelhaus. Nebenan wohnte eine alleinstehende Frau. Am andern Tag kam sie ganz aufgeregt zu uns und forderte uns auf, zu ihr hinüber zu gehen. Sie habe die Stube voller Russen und sie wollten Gesellschaft. Ich sagte ihr, ob sie verrückt geworden sei. Wir hätten uns so lange versteckt und jetzt liefen wir ihnen freiwillig bin die Arme. Sie hätten ihr gesagt, dass sie anständige Soldaten seien und niemandem etwas zu Leide täten. Gut, wir gingen hinüber.
Sie sassen gemütlich um den Tisch und machten uns Platz. Auch wir bekamen Wodka zu trinken. Nach einer Weile rückte der Soldat neben mir seinen Stuhl immer weiter von mir und schaute mich ganz missmutig an. Er dachte sicher, dass ich aus einem KZ komme. Der eine konnte ein wenig deutsch. Der sollte mich fragen, ob ich krank sei. Eine Antwort fiel mir schwer. Was sollte ich sagen. Eine Stimme in mir sagte "ja, ja ,ja!". Dann sagte ich auch ja. Was für eine Krankheit? Meine Antwort klng ganz deutlich, so dass alle hören konnten "Tuberkulose". Das hatten sie alle verstanden. Das Wort ist international, soviel ich weiss. Das wurde meine Rettung. Ich konnte gehen. Meine Schwester auch, sie war sicher auch nicht gesund. Schwer atmend stand ich auf. Die Emma hatte schnell den Trick verstanden. Sie stützte mich beim Gehen. Im Dorf wurde bekannt, dass die zwei Italienerinnen krank seien.
Niemand durfte uns belästigen. Eine zeitlang mussten wir uns nicht mehr verstecken. Es ging aber nicht lange, so mussten diese Soldaten fort und eine andere Kompagnie marschierte in Heinitz ein.
Ein junger Soldat namens Peter, der gut deutsch konnte, suchte bei uns Quartier für seinen Hauptmann. Er konnte auf einem Divan in der kleinen Stube schlafen. Das war auch eine abgemachte Sache mit Peter: Wenn er den guten Kapitan Skibinski überreden könnte, bei uns zu wohnen, wären wir eine zeitlang wieder gerettet. Der Herr Kapitan war von vornehmer Gestalt, nicht sehr gross, aber auch nicht klein. Auch nicht mehr jung. Ich glaubte, er hatte schon bemerkt, dass die zwei Italienerinnen Schutz suchten für die Nacht. Wenn der Kapitan Skibinski bei uns wohnte hätten wir Ruhe vor den Soldaten. So war es auch gewesen: Seine väterliche Erscheinung gab uns Zutrauen zu ihm. Der Peter war sein Adjutant und Dolmetscher und so kamen wir uns immer näher.
Eines Tages kam er mit zwei Armbinden mit der Aufschrift "Italianski" nach Hause. Von nun an sollten wir sie immer tragen als eine Art Schutz. Er sprach nicht viel, aber er machte sich Sorgen um uns zwei. Vielleicht hatte er auch junge Mädchen zu hause, die er lange nicht mehr gesehen hatte.
Er beauftragte den Peter, zwei Fahrräder zu besorgen. Irgendwo werde er schon welche finden, ohne Problem. Jetzt waren schliesslich sie die Kommandierenden im Dorf.
Eines Tages kam er selber mit zwei Petroleum-Stallaternen daher. Die waren auch für uns, wir würden sie gebrauchen in der Nacht. Dann sollte der Peter Lebensmittel besorgen, möglichst viel Reis und Büchsen mit allerlei Inhalt. Der gute Herr war sicher der Meinung, dass wir direkt nach Italien wollten. Aber der Weg nach Oppeln an der Oder war auch noch lang genug. Ich musste dorthin wieder zurück, hatte noch viel zu erledigen. Nach allem, was er für uns getan hatte musste man den Kapitan Skibinski gerne haben.
Die zwei Wochen, die er bei uns war gaben uns wieder Mut und Kraft für die lange Reise zurück. Leider musste er wieder weiterziehen. Aber zuvor gab er uns noch die feste Anweisung, unsere Reise noch nicht anzutreten. Es sei noch zu gefährlich, sich auf die Strassen zu begeben. Seine Soldaten seien noch zu wild, hätten noch nicht recht begriffen, dass sie sich nach dem Krieg umstellen müssten, es wären schon andere Regeln in Kraft getreten. Auch der Verlierer habe jetzt das Recht, respektiert zu werden.
Der Abschied von dem lieben Kapitan fiel uns sehr schwer. Wir verloren nicht nur einen guten Menschen, sondern auch einen Schutzengel. Als Andenken gab er mir sein Silberbesteck: Löffel, Gabel und Messer. Zur Ehre von Kapitan Skibinski aus der Ukraine habe ich das noch heute, zusammengebunden mit einer schönen Schleife.
Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit ihm, nachdem ich gesehen hatte, wie ein am Boden sitzender Offizier, den Rücken an einen Eichenbaum gelehnt von ein paar vor ihm stehenden Soldaten ins Gesicht geschlagen wurde. Da fragte ich, ob sie so wenig Disziplin hätten in der Armee. "Wenn wir unsere Soldaten nicht mit einer lockeren Leine gehalten hätten, wären wir heute auch nicht die Sieger geworden." Das war seine Antwort.
Da ich von der Vergewaltigung der Russen geschrieben hatte möchte ich auch nicht unterlassen zu erwähnen, dass meine Schwester bei der Flucht schwer missbraucht wurde von einem deutschen Gefreiten. Wenn nicht andere Soldaten sie hätten befreien können - ich weiss nicht, was aus ihr geworden wäre: Ich lag schon in einem Güterwagen, da kam die Emma. Sie schwankte und fror abnormal. Das Blut rannte ihr die Beine entlang. Sie konnte nur noch sagen ich solle sie wärmen; sie friere sich tot. Ich tat mein Bestes, sie zu erwärmen bis sie eingeschlafen war. Ich ahnte immer noch nicht was mit ihr passiert war.
Am anderen Morgen konnte sie darüber reden. Eine zeitlang verlor ich den Respekt vor allen Soldaten. Im Krieg werden alle mehr oder weniger gleich.
Jetzt musste man sich nicht mehr wundern, dass wir so Angst hatten.
Mitte Juni 1945 hatten wir uns entschlossen, den Rückweg anzutreten. Schwer wurde der Abschied von der guten Familie Fesel, die uns so lange in ihrem Heim geduldet hatten. Schliesslich waren wir mit ihnen weder verwandt noch bekannt.
Deshalb verdienen sie ein grosses Lob und Dank und die Erinnerung in uns für immer.
Wir konnten ihnen kein Entgelt überlassen für die liebe Aufnahme: Das deutsche Geld galt wegen der Inflation nichts mehr. Nur unsere Schlitten blieben im Heim zurück. Es war jetzt Sommer und sie dienten uns nicht mehr.
Die Fahrräder hatten sie darin abgelöst, unsere Last zu tragen. Obwohl wir nicht viel fahren konnten - die Gegend war ziemlich hügelig - war es doch immer noch besser sie zu stossen als zu tragen.
Sogar die Sonne war uns gnädig: Sie begleitete uns jeden Tag mit ihrer Wärme. Aber in der Nacht machte auch sie Pause - so wie wir. Wir suchten Unterkunft in den Häusern. Viele Leute wiesen uns ab, sie meinten es sicher nicht böse. Wir gaben zu verstehen, dass wir uns selber verköstigen könnten und wenn wir dürften etwas Reis kochen reichte es bestimmt auch für sie. Auf diese Weise klappte es hier oder dort immer. Zwar gab es nicht immer ein Bett. Wir waren auch zufrieden mit einem Schlupfwinkel wo wir sicher waren vor den Sowjetsoldaten. Diese waren auch sehr scharf auf gute Fahrräder. Sie nannten sie "Maschinka".
Es ging jeden Tag weiter. Geografisch waren wir zwei nicht sehr kundig, aber wir fragten immer wieder jemanden, ob wir auf dem richtigen Weg wären nach Oberschlesien.
Aber eines Tages ging es nicht mehr so problemlos wie bisher: Wir kamen durch ein Dorf in dem beidseits der Strasse eine Menge Soldaten rasteten. Ich hörte, dass einer zum andern sagte "Maschinka charascho". Es gab in mir wie einen Blitz und ich sagte zu Emma: "Wir haben unsere Gepäckträger nicht mehr lange". Und so wurde es auch.
Die zwei Soldaten warteten bis wir aus der Menge heraus waren und überraschten uns beim Wald - beide auf einem Fahrrad - indem sie uns ihre Maschinenpistolen auf die Brust drückten und nach unseren Maschinka verlangten. Wir wehrten uns in dem wenigen Russisch, das wir gelernt hatten: "Da der Krieg vorbei ist, könnt ihr unsere Maschinka nicht wegnehmen. Wir müssen bis nach Italien damit!"
Es nützte alles nichts, auch unsere Armbinde nicht. Wir zwei kämpften wie wir konnten aber sie waren die Stärkeren, lösten mit ihren Messern unser Gepäck, so dass alles mitten auf der Strasse lag und fuhren jetzt mit drei Maschinka bergab. Der eine mit nur einem Fahrrad war schnell davon, aber der andere mit zweien hatte mehr Mühe. Ich überlegte nicht lange, warf was ich an den Füssen hatte von mir und lief den doppelten Räubern hinterher. Einmal fiel er hin.
So gewann ich ein wenig Zeit, um ihm auf den Fersen zu bleiben und in der Hoffnung, Hilfe zu bekommen. Die Hilfe kam. Ein offenes Auto mit vier Offizieren kam angefahren. Ich stellte mich mit ausgebreiteten Armen mitten auf die Strasse. Ich musste gar nicht viel reden, sie hatten selber gesehen, um was es ging. Sie hielten an und stellten den Soldaten. Er weigerte sich, er sei Soldat und brauche die Fahrräder. Da stieg ein Offizier aus dem Wagen und gab ihm eine Ohrfeige. Aber er hielt noch immer die beiden Maschinkas fest. Nach der zweiten Ohrfeige liess er sie los und rannte davon.
Ich dankte den Herren sehr. Einer sagte noch, ich solle keine Angst haben, der komme sicher nicht mehr. Sie salutierten und fuhren weiter. Bei der Schwester angekommen sagte ich ihr, ich käme wieder mit beiden Vehikeln. Mamma mia, das war eine Aufregung - und doch mussten wir weiter.
An dem Tag suchten wir früher als sonst ein Nachtquartier. Bei einer taubstummen Frau fanden wir Platz in einer Scheune auf duftigem Heu. Bei ihr im Haus durften wir etwas Reis kochen. Es reichte auch für sie. Ich schlug der Schwester vor, die Mäntel und Schläuche von den vollgepumpten Rädern wegzunehmen. Die Komödie von heute wollte ich nicht noch einmal mitmachen. Sie war einverstanden und wir verstauten die Teile in unserem Gepäck. Jetzt machten die Räder mit ihrer Blösse viel Lärm auf den gepflästerten deutschen Strassen. Dafür war die Gefahr nicht mehr da, dass man sie uns wegnehmen konnte. Klar, wir brauchten jetzt mehr Zeit. Es kam auch auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. So weit war es auch nicht mehr bis zu unserem Zuhause.
Ich vernahm unterwegs, dass Oberschlesien wieder zu Polen gehörte. Somit mussten wir nun polnisches Geld haben zum weiterleben. Unsere Fahrräder wurden unsere erste Hilfe - dank dem Kapitan Skibinski.
In der letzten Nacht, wo wir noch um Unterkunft bitten mussten begrüsste uns die Bäuerin mit den Worten, ob wir ihr auch die Leintücher stehlen wollten wie die letzten, die bei ihr geschlafen hätten. Wir schworen, sowas nie zu machen. Ich muss aber auch sagen, dass wir auf unserer langen Reise nie in einem Bett geschlafen hatten. Sie schlug voller Kraft die Haustüre zu. Wir staunten ob dieser Geste, denn sie kam uns gar nicht so böse vor. Wir liefen auch nicht weg, denn die Bank neben der Tür zog einen an, sich einen Moment darauf zu setzen. Diese kleine Rast tat uns sehr wohl nach dem langen Marsch.
Nach einer kleinen Weile kam die gute Frau wieder. Mit Schwung riss sie die Türe auf, stemmte ihre Fäuste in die Hüften und sagte mit lauter Stimme, ob wir gedenken auf der Bank zu schlafen - und was die Armbinde bedeuten solle?
Meine Schwester sagte ihr, sie solle keine Angst haben, wir trügen nicht das Hakenkreuz mit uns. Es bedeute nur, dass wir Italienerinnen seien. "Ja sowas" sagte sie mit einem weicheren Ton. Plötzlich änderte sie ihre Meinung. Ganz diplomatisch meinte sie, das es unverantwortlich sei, um diese Zeit noch auf der Strasse zu sein. Es werde ja bald dunkel und wir sollten ins Haus kommen, es gäbe Pellkartoffeln mit Quark, so eine Art Sauermilch.
Wir assen mit Wonne. Zu trinken gabs frische Milch dazu. Wir mussten am Abend viel erzählen: Der Bauer war sehr interessiert zu hören über Italien und auch über den Krieg und andere Sachen. Wenn wir alle Wein getrunken hätten, so wären wir bis zuletzt noch weitläufige Verwandte geworden. Aber die Milch hatte nicht die gleiche Wirkung und so durften wir zwei ins Bett gehen als gute Freunde.
Im Bett dachte ich, dass heute vor acht Tagen auch Sonntag gewesen sei und dass wir auch heisse Kartoffeln gegessen hatten. Aber am Mittag und wie immer hatte ich auf die Suche gehen müssen, denn die Emma schämte sich zu sehr, obwohl sie immer mehr Hunger hatte als ich. Es war auch ein Bauernhaus - ziemlich weit von der Strasse. Dort angelangt klopfte ich ganz anständig an die Tür. Eine schöne, grosse blonde Frau mit grossen blauen Augen nahm sich Zeit herauszukommen. Ich bin von Natur aus geduldig und wartete.
Sobald sie die Tür öffnete, kam mir eine Wolke von Dampf aus der Küche entgegen. Demnach wurden Kartoffeln gekocht. Sie wollte mich abweisen, aber ich gab nicht nach. "Es schmeckt so gut nach Kartoffeln", meinte ich freundlich zu ihr. Die Antwort lautete, wir könnten sie nicht essen, das sei nur für die Schweine. Es sei eine andere Sorte und sehr gross.
Im Stillen dachte ich: "Desto besser". Aber ich sagte nur, "wenn die Schweine nicht sterben daran, dann können sicher auch wir essen von der Sorte."
Unwillig nahm sie doch den Deckel von dem grossen Kessel und fischte einen heraus, der fast so gross war wie eine gelbe Melone. Sie wollte schnell den Kessel zumachen, aber ich fragte auch schnell, ob ich noch eine haben könnte, wir seien zu zweit: "Ich bitte Sie!" Sie war nicht guter Laune, aber sie gab mir doch noch eine von den grossen Kugeln.
Sie wartete gar nicht auf meinen herzlichen Dank, schlug die Türe zu und ich lief schon mit den heissen Kugeln in der Hand, sie ab und zu in die Luft werfend - sie waren heiss -, zu der Schwester. Glücklich wie zwei Fische im Wasser setzten wir uns unter einen schattigen Baum und assen die Schweinekartoffeln. Sie waren gar nicht so schlecht. Nach dieser Erinnerung schlief ich ein.
Am andern Morgen kamen wir aus dem weichen Bett wie zwei Murmeltiere aus dem Winterschlaf. Auf dem Küchentisch waren schon allerlei gute Sachen aufgestellt. Ich lobte ihre Kühe, die so gute Milch lieferten. Sie bekam ganz rote Backen vor Freude und erinnerte uns daran, dass ihre Kühe zu den schönsten gehörten weit und breit. Kinder hatten sie keine zum Lieben, umso mehr taten sie sich wärmen an ihren Tieren. Wir hatten auch vernommen, dass ihre Hühner sehr fleissig seien mit Eier legen. Es freute uns auch, dass Frau Berta voller Freude von ihrem Tierreich erzählte. Die zwei guten Leute wollten uns noch einen Tag bei sich behalten, aber die Unruhe in uns war stark geworden: Wir wollten wieder zu hause sein.
Nach unserer Berechnung hätten wir es bis am Abend geschafft, Voksdorf zu erreichen. Dort hatten wir bis vor sechs Monaten noch gewohnt. Damit hätten wir auch unsere letzte Etappe überstanden gehabt. Die Neugierde gab uns zudem Antrieb zu wissen, ob noch alles da sei, was wir zurückgelassen hatten.
Unsere Gastgeber hatten ein Einsehen für unseren Plan. Sie liessen uns ohne Proviant für die ersten Tage nicht gehen: Ein so grosses rundes Brot hatten wir noch gar nie gesehen, dazu Mehl, Eier, Schweinefett und eine Flasche Milch für auf den Weg. Ich musste auch versprechen, wiederzukommen, wenn wir nichts mehr hätten. Sie hatten ein gutes Versteck unter dem Boden, so dass die Russen nichts finden konnten. Es habe noch genug, auch für uns, sagte die gute Berta. Wir trennten uns gar nicht gerne von ihnen, aber es musste so sein. Als Entgelt hatten wir nichts zu geben, nur viele Dankesworte und ein Stück unseres Herzens hatten wir ihnen zurückgelassen.
Der Bauer lachte noch über unsere Fahrzeuge. Sie wirkten ganz komisch ohne ihre Bekleidung. Uns genügte, wenn sie nur noch rollten bis daheim, zuhause. Hier und dort, an einer Mauer sahen wir noch den Spruch von Hitler gepinselt: Räder müssen rollen für den Sieg. Es war doch nicht nach seinem Wunsch gegangen, obwohl ich jedem den Sieg gegönnt hätte - aber ohne grosse Verluste.
Wir waren froh, dass unsere Räder uns heimbrachten, wenn auch nur auf den Felgen. Unsere letzte Rast verbrachten wir wieder unter einem Baum. Von weit her hörte man Glocken Mittagszeit schlagen, da wusste der Magen, um was es ging. Uhren hatten wir nicht. Das runde Brot gab einen soo guten Duft von sich, dass man nicht länger warten konnte. Mit etwas Fett darauf wurde es ein Festessen. Die Milch gab uns Kraft zum Weitergehen.
Der Monat Juli 1945 fing schon an, es war schön und warm im Land, für uns fast zuviel, da wir noch Winterklamotten tragen mussten. Im Dezember 1944 glaubten wir noch nicht, so lange fortbleiben zu müssen.
Die Schwester hatte noch die letzte Schweineschmalzschnitte in der Hand und sagte wohlwollend: "Welch ein Segen!" "Du meinst doch nicht, dass dieser Segen vom Himmel kommt?" sagte ich laut. Wir hatten 5 Jahre lang nur Vernichtungsbomben erlebt, die Hölle war auf Erden, man hatte gewartet auf ein Friedenszeichen von oben, aber es war nie eines gekommen. Auch nicht, als die Menschen verbrannt wurden wie Tannenholz, aber lebendig!
"Hast vergessen die eine Nacht in Vogsdorf, wo der Himmel schwarz war von Flugzeugen, und die Erde beleuchtet wurde mit ihren synthetischen Christbäumen, damit sie ihre Ziele genau treffen konnten. Teuflischer konnte es nicht mehr zugehen. Mal spielte ihnen der Wind einen Streich, nahm die Beleuchtung mit sich, die Piloten verloren ihre Ziele, so dass die Zivilbevölkerung mit ihrem Leben bezahlte. Keine Religion protestierte dagegen. Alle hatten Angst vor dem ungebildeten Menschen mit dem kleinen Schnauz unter der Nase." Die Nacht werde ich nie vergessen: Es war ein Samstag. Wir hatten einen Hefekuchen bekommen. Er war für Sonntag gedacht, aber die Emma war der Meinung, dass wir die Nacht nicht überleben werden. Wir hatten uns in unser Versteck verkrochen und warteten auf ein Ende, aber dort oben dachten sie noch nicht daran, Schluss zu machen. Sicher weil sie immer Hunger hatte kam ihr der Kuchen in den Sinn. Plötzlich sagte sie: "Wenn ich schon sterben muss will ich nicht mit leerem Magen begraben sein." Aber holen wollte sie den Kuchen auch nicht, denn wenn gerade eine Bombe über das Haus fallen würde - das wollte sie auch nicht riskieren. Wir warteten auf einen günstigen Moment. Ich mit meinem mütterlichen Sinn gab natürlich nach: Ich rannte schnell ins Haus und holte den Kuchen. Die leeren Bomber flogen fort und die beladenen kamen schon als Ersatz: Es hagelte wieder wie vorher.
Wir assen unseren Kuchen. Die Emma war nicht gestorben und am Sonntag hatten wir nichts mehr. - "Jetzt habe ich Dich erinnert an die bösen Zeiten, Emma. Komme mir nicht mehr mit dem Segen von oben. Den Segen haben uns die Bauersleute mit ihrer Güte gegeben. Jetzt wollen wir nicht mehr Diskutieren, wir müssen weiterziehen."
Wir packten unsere Siebensachen auf unsere zwei Räder, Begleiter, an deren Lärm von den leeren Felgen wir uns schon gewöhnt hatten. Bis zuletzt klang es in unseren Ohren wie schlechte Musik.
Endlich, nach vielen Strapazen, schlechten und guten Erlebnissen kamen wir an unser Ziel.
Wir erwarteten grosse Freude bei den Verwandten zu unserer Ankunft. Sie zeigten gerade das Gegenteil. Die Schwägerin wollte schnell unsere schönen Sommerkleider von der Leine abnehmen, wir sollten nicht wissen, dass ihre Mädchen sie getragen hatten, aber wir hatten schon von Weitem gesehen, wie sie flatterten mit dem Wind. Auch unser Wohnraum sollte nicht mehr für uns sein. Jetzt habe es so viele leerstehende Häuser, die wir bewohnen könnten, sagte uns die Schwägerin. Uns war das recht, denn wir hatten im Sinn, wieder nach Italien zurückzukehren.
Wir fanden, was wir suchten, räumten unsere Sachen aus dem Haus und brachten sie in ein verlassenes Häuschen. Wenn wir Glück hatten, waren wir bereit, unsere Reise nach Italien anzutreten bevor die Eigentümer zurückkamen.
Leider kommt es immer anderst als man denkt: Erstens eine Pause einschalten, zweitens sich an die Polen gewöhnen un drittens Geld anschaffen für die Heimreise. Es herrschten noch chaotische Zustände: Um am Leben zu bleiben konnte man auch ohne Geld auskommen, indem man Waren umtauschte auf dem Markt in Opole - jetzt hiess es nicht mehr Oppeln. Unser Proviant ging zur Neige.
Als erste war Emma bereit, ein Kleid zu opfern. Das war kein Wunder, denn sie hatte auch immer mehr Hunger als ich. Was sie alles herausgeschlagen hatte aus einem Kleid weiss ich nicht mehr, nur die Butter ist mir geblieben. Sie kam ganz stolz wieder nach Hause und meinte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Sie breitete die miese Ware auf dem Tisch aus. Darunter auch die Butter. Das hatte mir am besten gefallen: Etwa 300 Gramm schön eingepackte Butter. Noch schöner war die Aufschrift: Masla. Ich packte sie aus und was sah ich? Kartoffelpüree! Es rutschte mir ein Fluch aus dem Mund.
Sie waren auf Betrug eingestellt wie Gauner. Nachdem die Leute geflohen waren und der Krieg zu Ende ging räumten die Polen die Häuser aus. Wer jetzt seine Möbel zurückhaben wollte, konnte sie auf dem Markt kaufen gehen. So gehts mal auf der Welt: So oder so, jeder will leben.
Ein anderes Mal war ich auf den Markt gegangen, um schweren Herzens meine schöne Puppe zu opfern. Sie war in der Form von einem zwei Monate alten Baby. Sie sah aus wie ein echtes Kind. Ich hatte ihr auch einen Namen gegeben: Den Namen meines Vaters Alberto. Viele Leute liefen mir nach und fragten nach dem Preis. Jeder sagte, dass die Puppe sehr schön sei: "Dobre Leika".
Ich hatte keine Ahnung über ihren Wert in Geld. Ich fing bei 400 Zloty an, die Bewunderung nahm ziemlich ab. Also dachte ich, der Preis sei zu hoch. Eine Frau bot mir 200 Zloty, ich ging weiter. Ein Mann bot 250. Die Angebote stiegen immer mehr bis eine ältere Dame einverstanden war mit 400. Ich sollte sie nach Hause begleiten, denn sie hatte nicht so viel Geld bei sich. Zu Hause angelangt bekam ich das Geld und sie meine Puppe. Zum Glück hatte ich nicht nachgegeben, denn mit dem Erlös hatten wir auch nicht lange gelebt. Der Kurs des polnischen Geldes war auch nicht hoch. Auf dem Heimweg weinte ich, weil ich meinen Alberto nicht mehr hatte. Wenn ich traurig war, hatte ich ihn sogar zu mir ins Bett genommen. Er gab mir das Gefühl, ein Kind zu haben, das ich während dem Krieg nicht haben durfte.
Von unseren Eltern hörten wir schon lange nichts mehr. Sie von uns auch nicht, so dass der Drang zum Wiedersehen immer stärker wurde. Die jetzige Ruhe brachte uns zur Besinnung. Das Heimweh machte sich bemerkbar.
Jetzt gab es kein Warten mehr: Wir wollten nach Italien zurück. Das weitere Trampen kam nicht mehr in Frage, die Heimat war zu weit weg. Bis jetzt waren wir uns vorgekommen wie zwei Vagabunden, aber ohne Gitarre. Nun wollten wir mit der Bahn fahren, aber das Geld fehlte. Als Kapital hatten wir noch die Fahrräder. Ich verschönerte sie noch mit ihren Schläuchen und Mänteln und polierte sie blank. So wurden sie bereit für den Verkauf. Für die zwei  Fahrräder bekamen wir 800 Zloty. Wenn es auch nur bis an die italienische Grenze gereicht hätte: Dort wartete das Rote Kreuz auf zurückkehrende Gefangene. Aber nein, es sollte nicht sein: Der Typhus regierte in der Gegend.
Kein Wunder bei den vielen Kadavern, die noch auf den Feldern lagen: Soldaten und auch viele Pferde, die zum Kampf eingezogen worden waren, wurden nicht begraben. Jeder rannte um sein Leben, Grass wuchs darüber und die Sommerhitze verbreitete die Bakterien. So wurde auch meine liebe Schwester Emma von der bösen Krankheit befallen. An unseren Traum war nicht mehr zu denken. Addio bell'Italia!
Weit und breit gab es keine Ärzte, Medikamente noch weniger. Ich hatte eine alte Krankenschwester ausfindig gemacht, die helfen kam. Ihre Diagnose lautete Lungenentzündung. Emma hatte über 41 Grad Fieber. Ich musste sie nachts ausziehen und in ein ganz nasses, kaltes Leintuch wickeln. Damit hätte ihr Fieber ein wenig nachlassen sollen, aber dies war nicht der Fall. Sie sagte mir, ich solle Geduld haben. Nach 9 Tagen werde es eine Wendung geben. Dann werde sie wieder gesund. Die Tage vergingen, das Fieber ging noch höher. Sie trank Tag und Nacht. Sie sagte, dass der Brand in ihrem Bauch wie Feuer sei.
Ihr Mund wurde wund. Bis zuletzt gab ich ihr mit einem dünnen Schlauch zu trinken. Kein Mensch kam mir zu Hilfe. Die Leute hatten Angst vor Ansteckung.
Eine Nacht kam unverhofft Besuch: Zwei junge russische Soldaten. Da wir keine Schlüssel hatten von dem Haus vermachte ich jede Nacht die Türe von innen mit einem mächtigen Baumstamm. Sie waren sicher vom Fach: Mit einem Eisen hoben sie die Türe von unten, der Stamm fiel um und sie kamen ins Haus. Eine Taschenlampe in der Hand suchten sie etwas zum Mitnehmen. Sie hatten Pech, wir hatten selber nichts.
Es war mir alles egal, nur die Schwester durften sie mir nicht anfassen. Ich sagte ihnen, sie sei schwer krank. Sie lag im Bett wie ein geschlagener Hund, auch voller Angst. Nur ihre von dem hohen Fieber roten Backen gaben ihr noch ein wenig Ausstrahlung als Mensch.
 Doch sie liessen sie in Ruhe, nahmen den Wecker und noch ein paar Sachen und gingen fort.
Mit grosser Mühe und Kraft brachte ich es fertig, die Türe wieder anzubringen. Ob dieser Aufregung zitterte ich noch lange. Es war uns nochmal gut gegangen.
Meine liebe Schwester machte mir grosse Sorgen: Die Tage vergingen und ich musste zusehen wie sie zugrunde ging. Ich fragte hier und dort, wo ich Hilfe bekommen könnte. Am besten meldete ich mich in einem russischen Gefangenenlager. Dort gab es sicher einen Arzt. Sofort machte ich mich auf den Weg. Ohne Mühe konnte ich es finden. Ich meldete mich bei der Wache, welche begriff, um was es ging und mir sagte, es gäbe auch einen italienischen Doktor bei den Gefangenen, ich solle nur hineingehen. Einen Moment lang glaubte ich, dass mir das Herz stehenblieb vor Freude.
Es war Ende August 1945. Es ging gar nicht lange, der dottore kam und ich erklärte ihm meine Lage. Er fragte, wo ich wohne. Ich erklärte ihm deutlich den Weg zu uns: Es waren schon ein paar Kilometer zu laufen. Er gab mir zu verstehen, dass es nicht so einfach sein werde, er habe nichts zu sagen im Lager. Die russische Ärztin habe das Kommando, er habe auch keinen Zugang zu den Medikamenten, es werde aber höchstens Chinin vorhanden sein. Er versprach, mit ihr zu reden. Ich weinte lauter Tränen und sagte immerzu, dass meine Schwester am Sterben sei, er solle uns doch bitte helfen. Wenn er nur die Chefin überreden könnte und auch aus dem Lager dürfte! Seine letzten Worte gaben mir Hoffnung.
Am nächsten Tag kam der italienische Offizier in Begleitung von einem Soldaten auf einer Karre, gezogen von einem Pferd und brachte Chinin, um das Fieber herabzusetzen. Er erschrak ob dem Zustand der Schwester: Ob er wohl noch helfen konnte? "Irgendwo geschieht auch mal ein Wunder" sagte der gute Doktor. Von da an kam er jeden Tag mit Chinin, aber er sah keine Besserung.
Die Emma plante schon, wo sie wollte begraben sein: Unter einem Lindenbaum, dort wäre es schön frisch gewesen. Sie brannte noch immer innerlich. Der Doktor beschloss, sie ins Lager mitzunehmen. Er hatte gehört, dass in den nächsten Tagen ein Transport nach Italien zusammengestellt werde.
Unser Doktor fasste den Plan, dass sie - falls sich ihr Zustand ein wenig bessern würde dank dem Chinin, das sie jetzt in dem Lager bekam - es riskieren sollte, mitzufahren. Der Zug bestand aus Viehwagen. Sie würden sie samt ihrem Bett mitnehmen. Die Verantwortung sollte ich auf mich nehmen.
Die Reise sollte mehr als 2 Wochen dauern und warm war es auch nicht mehr - es war schon anfangs November. Unser Doktor meinte, wenn wir die italienische Grenze erreichen könnten hätte die Emma noch die Chance, gerettet zu werden. Ich aber zweifelte daran: Ich war in eine Zwickmühle geraten. Ich sollte viel Wasser abkochen und in Flaschen geben, damit sie genug zu Trinken hätte auf der langen Reise.
Nach drei Tagen hatte man auch mich abgeholt: Mir wurde so komisch, ich gab der ganzen Aufregung die Schuld daran. Aber es war nicht das: Es war schon Fieber. Der Doktor untersuchte mich. Die Diagnose lautete: Typhusanfang. Er gab einen Fluch von sich und meinte, das hätte uns gerade noch gefehlt. Von der bevorstehenden Reise in die Heimat war nicht mehr die Rede. Er musste mich melden bei der Chefin des Lagers. So waren die zwei Schwestern Emma und Bianca wieder beisammen.
Die rassige Ärztin in ihrer braunen Lieutenants-Uniform und mit schönen Stiefeln wirkte faszinierend. Zwei Herren in weissen Kitteln waren ihre Begleiter. Unser Doktor spielte nur den Handlanger, war auch nur ihr Gefangener. Er zog mir das Hemd hoch, damit sie mir die Lunge abklopfen konnte. Sie meinte, dass die Ursache des Fiebers von der Lunge käme. Der Italiener gab seinem Temperament den Lauf indem er ihr widersprach und sagte, dass er in Turin als Lungenspezialist gegolten habe und er behielt seinen Standpunkt. Sie fühlte sich blamiert vor den anderen und verteidigte sich, indem wir beide in andere Lager gebracht werden sollten. Dort gäbe es auch gute Ärzte. Sie wollte genau wissen, wer von den beiden Recht hatte: Russland oder Italien.
Am andern Tag wurde ihr Befehl ausgeführt und wir wurden mit derselben Karre nach Oppeln gebracht. Sie war breit genug für die schmalen Liegen, die wir benutzten. Dort wurden wir wie jeder andere Patient aufgenommen. Wir kamen in dasselbe Zimmer. Sehen konnten wir uns nicht, da die Betten hintereinander standen. Wir waren sehr froh, dass wir noch miteinander sprechen konnten.
Gegen Abend kam ein weiblicher Soldat zu mir mit einer Kerze in der Hand und Kupferschröpfer dazu. Sie sagte kein Wort, sie meinte sicher, dass das nicht nötig wäre, weil wir uns sowieso nicht verstanden hätten. Mit ihren kräftigen Händen zog sie mir das Hemd aus und die Prozedur ging los. Sie erhitzte die Schröpfer auf der Flamme und drückte sie voller Kraft auf meinen Rücken. Sie nahm es mit der Hitze nicht so genau. Wie sie fertig wurde sagte ich trotzdem: "Spassiba". Nach der geeigneten Zeit kam sie wieder und nahm die Schröpfer weg. Sie hatten ihre Erwartungen nicht erfüllt. So spukte sie mir auf den Rücken und ging mit ihren Sachen davon. Die Wunderdinger hatten keinen Tropfen Wasser gezogen.
Also doch Typhus! Jetzt musste ich mich mit dem Abfuhrmittel befreunden: Die Därme sollten leergehalten werden. Damit auch die Bazillen mit davongingen wurde nicht gespart mit der Dosierung. Das war kein Rhizinusöl. Es war eine Flüssigkeit, die ich nicht kannte. Es kamen immer zwei Personen mit einem vollen Glas. Ich musste nur den Mund weit offen halten, der eine hielt mich fest und der andere schüttete das Zeug hinein. Mit dieser Methode waren sie sicher, dass die Medizin an den richtigen Ort gelangte.
Der Patient, der vor mir in dem Bett gelegen hatte, musste sehr krank gewesen sein, da es noch sehr mit Blut befleckt war. Ich durfte mich nicht weigern hineinzuliegen und musste froh sein, dass wir zwei aufgenommen wurden. In dem schmutzigen Bett warteten sogar die Läuse auf mich. In dieser Zeit durfte man sich über nichts mehr wundern.
Es ging langsam, aber die Emma erholte sich dadurch, dass sie etwas Nahrung zu sich nahm. Aufstehen konnte sie noch nicht, sie war noch zu schwach.
Ein Gefangener namens Capitano Solera kam uns jeden Tag besuchen. Er war ein älterer Herr und kam auch aus Turin, war auch in der gleichen Kompagnie wie unser lieber Doktor. Als er sah, dass die Emma lebendiger wurde versuchte er, ihr aufzuhelfen. Er wollte ihr das Laufen beibringen, aber ihre Beine trugen sie nicht. Nach und nach konnte sie immer mehr Schritte gehen, aber nur mit Hilfe des Capitano Solera. Nach einiger Zeit konnte sie das Bett sogar vor mir verlassen. Ich freute mich sehr für sie: Es kam mir vor wie ein Wunder. Vielleicht kam das doch von oben.
Ich lag noch einige Zeit, denn ich wurde ja später krank als sie. Auch die Güte von diesem Capitano erinnerte uns immer noch an Kapitan Skibinski.
Wenn die schöne Dottoressa nach Oppeln kam, nahm sie auch ihren Dottore mit. Versteckterweise kam er schnell zu uns, tat mir den Rückan abklopfen und sah, dass ich geschröpft wurde: Hier und dort gab es noch Zeichen. Er freute sich über die Genesung von Emma und schlich aus dem Zimmer. Er sagte nur noch, Italien habe doch gewonnen und die Freude machte ihn noch schöner. Er passte gut zu der Frau Doktor, sie auch zu ihm. Ich schätzte sie beide im gleichen Alter: Etwa um die 35 Jahre alt, ich könnte mich auch trompieren.
Der Tag und die Nacht waren lang im Bett zu liegen, so kam mir allerlei in den Sinn. Ich erfuhr, dass der Transport, mit dem wir mitsollten doch abgefahren war. Warum war unser Doktor nicht mit dabei? Die russische Ärztin wusste, dass der Konvoi nicht nach Süden sondern nach Osten sollte. Sie wollte ihm diese Strafe ersparen, weil sie ihn liebte. Das alles vernahmen wir von Herrn Solera. Jetzt begriff ich, warum er so viele Rechte hatte bei ihr.
Der Capitano wusste immer alles, er hatte gute Augen und gute Ohren, verstand sich auch gut mit der Lagersekretärin. Sie hielt ihn ziemlich auf dem Laufenden.
Endlich durfte auch ich das Bett verlassen. Demnach hatte mir die radikale Abfuhr doch gut getan. Nur die kleinen Tierchen in meinen Haaren quälten mich noch.
Meine Schwester gab sich alle Mühe, mich zu befreien, was ihr schliesslich auch gelang: Jetzt hatten wir nur noch Hunger. Die Verpflegung bestand aus gekochtem Hafer mitsamt den Hülsen. Es gab immer das Gleiche - morgens und abends. Das Wenige, was uns in einer Gamelle gebracht wurde reichte nie aus, unsere Mägen zu sättigen. Mit leerem Magen konnte man auch nicht gut einschlafen. Versteckterweise kamen wir ab und zu in der Nacht zu einer Sitzung zusammen. Wir fragten uns, was für ein Interesse die Russen hatten, uns so lange gefangen zu halten!
Um uns monatelang zu füttern mussten sie einen Grund haben: Sie passten nur eine gute Gelegenheit ab und dann fuhren sie auch mit uns in die Taiga. Auch der Pakt von Genf machte Mütterchen Russland keinen Eindruck, die Gefangenen heimzuschicken. Die Zeit verging, wir wurden unruhig und schweigsam. Die Warterei tat unseren Nerven nicht gut.
Obwohl Capitano Solera sehr intelligent war und auch der Älteste unter uns, war er doch machtlos: Das Lager hatte keine Ausgänge zum Fliehen.
Man sagt immer, alles habe sein Ende. Auch für uns gab es endlich ein Ende der Gefangenschaft: Es kam eine Delegation Amerikaner und sie sahen, dass das Lager noch voller Gefangener war. Sie drohten dem Kommandanten, in drei Tagen das Lager zu räumen und die Leute an ihre jeweiligen Landesgrenzen zu bringen.
Diese Gefangenen waren weder als Tote noch als Vermisste gemeldet worden. Die Angehörigen wussten, dass sie zuletzt in deutscher Gefangenschaft waren. Die Frage: Wo sind sie jetzt? blieb offen. Es blieb nur noch die Hilfe vom Roten Kreuz. Die anderen Länder hatten ihre Gefangenen schon lange frei gelassen. Bei den Sowjets rührte sich nichts. So kam das Rote Kreuz in Bewegung und suchte bei den Russen. Sie fanden verschiedene Lager hier und dort und unseres dazu. Die Russen gaben nach, ein langer Zug mit Viehwagen rollte vor unser Lager. Unser Jubel mit Tränen gemischt wurde immer lauter. Aus leeren Kesseln machten die Männer Öfen in den Waggons.
Es wurde Dezember 1945, die Kälte nahm zu. Zu uns gesellten sich eine Familie mit zwei Kindern und einem neugeborenen Jungen sowie eine junge Dame, gross und schön und sehr gebildet in mehreren Spachen. Kein Mensch konnte ihre Herkunft erraten. Der Capitano und andere Offiziere hielten sie für eine Amerikanerin zur Begleitung des Transportes mit Beruf Spionin zu unseren Gunsten, damit der Zug wirklich nach Süden geführt werde.
Wenn der Zug mal Halt machte stieg sie aus und blieb lange weg. Die Abfahrt verpasste sie nie. Sie wusste anscheinend immer, wann der Zug weiterfuhr. Wir nahmen an, ihre Verbindungsleute warteten auf ihre Meldung darüber, auf welcher Strecke sich unser Konvoi befand. Mit dieser Bewachung hatten die Russen nicht mehr freie Bahn. Sie hielten immer weit weg von Bahnhöfen, so dass man nicht sehen konnte, wo wir waren. Hie und da blieb der Zug lange auf alten Geleisen stehen. Wir wurden unruhig, eine Woche waren wir schon unterwegs. Das kleine Baby in unserem Wagen weinte wie es nur konnte.
In dem Stroh auf dem wir lagen bemerkten wir noch kein Ungeziefer. Das war schon ein grosser Trost - eine Plage weniger. Mal hatten wir auch das Glück, auf einen Güterbahnhof zu kommen, wo es hier und dort einen Waggon voller Kartoffeln gab. Unsere Kameraden waren flink wie Ratten, sich des guten Gemüse zu
bemächtigen. Altes Holz zum Heizen und um die Kartoffeln zu kochen fanden sie immer. Für kurze Zeit bekamen wir eine bessere Laune, aber wenn der Magen lange leer blieb, hörte auch die Freundlichkeit unter uns auf.
Unter uns weilte auch ein Israelit, ein Überlebender aus Auschwitz. Er musste nicht mehr den Davidsstern vor der Brust tragen: Er sagte selbst, dass er Jude sei. Er hatte im Ghetto von Warschau gewohnt und beim Widerstand gegen die SS mitgewirkt. Das ging auch sehr grausam zu. Dieser Herr kam ab und zu in unseren Wagen, um die Langeweile zu unterbrechen. So gaben wir unsere Erlebnisse zum Besten. Unsere Leiden waren nichts gegen die seinen. Er war in das Lager von Auschwitz deportiert worden zusammen mit tausenden von Anderen.
Ein paar wenige hatten das Glück gehabt zu überleben, er war auch einer von denen. Als studierten Menschen, Ingenieur von Beruf hatten die Deutschen ihn gut gebrauchen können. Deshalb lebte er noch. Als die russischen Befreier gekommen waren, nahmen sie ihn zu sich in der Absicht, ihn in Sibirien auch gut gebrauchen zu können.
Ich hörte gerne zu was sich in dem Ghetto zugetragen hatte und wünschte immer, solche Geschehnisse niederzuschreiben.
Der Himmler und der Eichmann waren die Kommandierenden der SS in Warschau. Mit allen erdenklichen Vorwänden gingen sie vor, um die Leute aus dem Ghetto zu holen. Sie schlugen Plakate an die Wände, dass das schweizer Rote Kreuz bereit sei, sie in die Schweiz aufzunehmen - hauptsächlich alte Leute und Kinder.
Wer dran geglaubt hatte war gerade in den Tod geraten. Die Transportwagen waren nur getarnt mit dem Roten Kreuz. In Wirklichkeit waren die Wagen ihre Todesfalle: Die Leute wurden in den Waggons vergast noch bevor sie in den Lagern ankamen. Dieser Herr und noch viele andere hielten sich in dem Ghetto versteckt und verschafften sich heimlich verschiedene Waffen, um eine Revolte zu machen. Ihre Standpunkte waren auf den Dächern der Häuser im Ghetto. Von ihren Zubringern vernahmen sie, dass die Deutschen eine grosse Razzia machen wollten, damit sie bis zum letzten Juden alle in ihre Hände bekamen.
So war auch der Tag gekommen, als eine Schwadron voll bewaffneter SS ins Ghetto marschierten. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, von oben beschossen zu werden. Die Mehrzahl waren Deutsche gewesen. Die SS hatte keine andere Wahl mehr als das Ghetto zu verlassen. Der Himmler musste dem Hauptquartier die Niederlage und die Verluste melden.
Eine solche Blamage hatte der Führer nicht gerne angenommen und gab den Befehl zurück, die Ratten auszuräuchern, indem das Ghetto in Flammen vernichtet werden sollte.
Das war etwas für die SS, denn sie war nur zum Töten da. Die Meinung, die sie von sich hatten in ihren schwarzen Uniformen mit den zwei S auf dem Kragen: Von Weitem sah man ihren Stolz, dass sie in solcher Einheit der Vernichtung dienen konnten.
Es wurde nicht lange gezögert: Hitlers Befehl wurde ausgeführt. Das Ghetto verwandelte sich in eine Hölle: Chaos, Panik und Geschrei mischten sich in den Flammen. Die Möglichkeit, sich zu retten war sehr gering. Nur dieser Herr und ein paar seiner Mitkämpfer hielten sich etliche Tage und Nächte in dem Dreck der Kanalisation der Stadt Warschau auf.
Nach seiner Erzählung wurde der Jude ganz bleich, einen Moment lang dachte ich, er breche zusammen. Einer von seinen Zuhörern brachte ihn in seinen Waggon zurück. Plötzlich hatte er ganz alt ausgesehen, obwohl er erst nahe bei 60 Jahren war. Die ersten Tage danach kam er nicht mehr in unseren Viehwagen zum Plaudern, aber in der dritten Woche kam er wieder in der Meinung, dass unsere Reise bald zu Ende sein sollte und jeder gerne seine eigenen Wege gehen wolle. Er wollte nach Brescia und wir nach Piacenza.
Ich konnte nicht lassen, zu erfahren, wie er in Auschwitz gelandet sei und erlaubte mir die Frage danach. Auf vielen Umwegen konnte er Warschau verlassen - möglichst immer über Land - und die letzte Nacht verkroch er sich in einem Kuhstall. Demnach hatte er Wärme nötig, denn der Winter war schon angebrochen. Die Müdigkeit hatte ihn schnell in den Schlaf gewogen.
Jemand musste ihn gesehen haben in den Stall gehen. Wenn derjenige ein guter Nazi war, musste er sofort die Gestapo davon benachrichtigen, dass sich in dem Stall ein Deserteur verstecke. In höllischem Tempo kamen zwei von der Sorte und nahmen ihn mit. Er machte es ihnen mit seiner Herkunft nicht schwer, gab sofort zu, dass er Jude sei und so kam er sofort in das Konzentrationslager von Auschwitz.
Was sie mit ihm dort gemacht hatten wollte ich nicht mehr wissen: Ich hatte ihn schon genug strapaziert mit meinen Fragen. Wir kannten ihn nur nach seinem Vornamen Tolek. Man konnte schon an seinem Benehmen erkennen, dass er aus einer vornehmen Familie stammte.
Unsere Lokomotive zog uns mit schwachem Dampf Stück um Stück weiter. Der erste Halt war an der österreichischen Grenze. Dies sagte man uns, denn es stand nirgends angeschrieben.
Amerikanische Soldaten nahmen uns in Empfang, weil sie uns desinfizieren mussten. Wir mussten Schlange stehen, um dann die bekannten Körperteile frei zu machen. So konnten sie uns mit dem weisse DDT-Pulver bestäuben.
Wer noch Ungeziefer an sich hatte lief nicht mehr Gefahr, es über die Grenze zu bringen. Wir dachten, es gäbe nach dieser Prozedur etwas zu Essen, aber das war nicht der Fall. Wir hatten alle die gleiche Haarfarbe bekommen. Nach langer Zeit konnten wir wenigstens noch über unsere Köpfe lachen. Wir schienen alle auf einmal gleichaltrig geworden zu sein.
Es ging wieder weiter. Langsam aber sicher kamen wir nach Prag. Es war Mitternacht - endlich auf einem richtigen Bahnhof. Die grosse, schön beleuchtete Stadt kam uns wie ein Märchen vor. Es war ende 1945, die Amerikaner waren immer noch in Europa und unsere ersten Gastgeber, indem sie uns Brot, Konfitüre und heissen Tee gegeben hatten....
Man konnte schon sagen: Prag bei Nacht. Ich kam mir vor, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, als ob es nie einen Krieg gegeben hätte. Unsere Viehwagen blieben uns immer noch treu - bis nach Verona. Es war noch ein langer Weg bis nach Italien, aber das Gefühl, ausser Gefahr zu sein gab uns wieder Mut nach Hause zu kommen: Die Russen konnten unseren Transport nicht mehr umleiten.
Wegen der langen Reise in den Viehwagen ohne Fenster, so dass man gar nicht hinausschauen konnte tat ich die Zeit zurücksetzen in meine vergangenen Jahre in Deutschland. Was hatte ich erreicht? Im Stroh musste ich liegen bei meiner Ankunft und auf Stroh musste ich liegen auf dem Rückweg. Ohne Geld war ich gegangen und ohne bin ich zurückgekommen. Eigentlich hatte ich meine schönsten Jugendjahre nur dahingeworfen, mehr in Leid als in Freude. Umgekehrt hatte ich Vieles gesehen und erlebt, durch das ich viel reifer geworden war. Alles zusammen wurde für mich eine grosse Lehre fürs Leben in mancher Hinsicht.
Heute komme ich mir fast vor wie eine Psychologin ohne Studium. Ein italienisches Sprichwort sagt: Vale piu la pratica che la gramatica.
Einerseits schämte ich mich, acht Jahre in der Fremde gewesen zu sein und das Elternhaus mit leeren Händen zu betreten. Nach so einem schweren Krieg mussten sich unsere Eltern sehr darüber freuen, dass wir überhaupt noch beide lebten. Das andere spielte keine Rolle für sie.
Unser Rettungsengel hatte sich in Prag von uns verabschiedet. Mit ihrer feinen Stimme sagte sie zu uns, wir sollten keine Angst mehr haben, nach Russland deportiert zu werden. "Von jetzt an seid ihr in Sicherheit und braucht meine Hilfe nicht mehr!" Damit sprang sie von unserem Viehwagen und stieg in einen normalen Zug voller polnischer Soldaten und fuhr davon. Wir dankten und winkten ihr nach bis ihr Zug in der Dunkelheit verschwand.
Nach einer Weile schnaufte unser Zug auch weiter in die Nacht hinein gegen Süden zu. Die grossen Türen waren zugezogen worden nachdem wir alle hineingekrochen waren. Es war nicht leicht, das Einsteigen. Für diese Wagen gab es keine Tritte: Zuerst musste ein Mann hinein, dann zog er die anderen hinauf. So hatten wir einander immer geholfen. Die Räder ratterten in ihrem gewohnten Ton auf ihren kalten Schienen und wir freuten uns im Kerzenlicht darüber, das Brot in die gute Marmelade zu tunken. Wie war das gut nach so langer Zeit, Brot zu geniessen!
Dann kam unsere Agentin zur Diskussion. Wir alle hatten nur gestaunt, wie ihre Pläne funktioniert hatten - ohne Natel und Telefon!
Endlich erreichten wir die ersehnte italienische Grenze Brennero doch noch. Es war schon Dezember 1945, den Tag weiss ich nicht mehr. Wie hätte ich das auch wissen sollen, nachdem wir schon so lange mit dem Kopf in den Wolken lebten. Wir lebten einfach schon zu lange ohne Kalender. Der Gedanke, aus dem Elend herauszukommen war uns wichtiger. Man hatte nur noch die Vision, nach Hause zu kommen.
Es war noch dunkle Nacht. Ein paar Mönche erwarteten uns mit Glühwein, womit wir uns hätten erwärmen sollen. Aber unsere Mägen waren noch nicht auf Alkohol eingestellt - sie waren noch zu leer: Es wurde uns schlecht dabei. Es war den Mönchen nicht recht, dass es uns so ergangen war. Sie glaubten wohl, dass wir von Russland her kämen und sie hätten uns dort mit Wodka verwöhnt.
So weit nach Osten waren wir doch nicht gekommen: Wir kamen von Oberschlesien. Jetzt gehörte die Gegend wieder zu Polen.
Der Aufenthalt auf dem Brenner dauerte nicht lange und wir fuhren weiter gegen Bozen. Dort gab es einenlängeren Halt. Wir wurden vom Roten Kreuz betreut: Es gab warme Suppe und auch warme Milch. Die tat uns schon besser. Es musste jemand verbreitet haben, dass unser Konvoi aus Russland käme, deswegen waren viele Leute anwesend. Vielleicht waren sie ganz enttäuscht, dass die Kommunisten uns in Viehwagen nach Hause schickten, noch dazu ohne Hammer und Sichel. Wenigstens ein grosses Bild von Stalin hätte sich noch gut gemacht vor der Lokomotive. Sie als Sieger des unvergesslichsten Krieges des Jahrhunderts!
Um sicher zu sein hätten wir das Plakat nur bis an die italienische Grenze geduldet. Er war auch nicht sehr gnädig mit seinem Volk: Wenn einer nicht seiner Partei angehören wollte wurde er nach Sibirien verbannt. Auch für die Juden hatte er kein Erbarmen während der Kriegszeit: Millionen Auslandrussen wurden in die kalte Gegend deportiert. Ich fragte mich, ob dieses Sibirien so gross sein könne, dass so viele Menschen noch Platz haben. Wo blieb die Gerechtigkeit in der kommunistischen Partei? Auch in Italien ergriffen viele diese Partei, denn sie hatten die Grausamkeiten von den Faschisten gelernt. Wer die Politik versteht ist für mich ein Wundermensch.
Zurück zu unserer Heimfahrt: In Bozen war es sehr ergreifend. Dort durften wir aussteigen. Wie unsere Soldaten sich auf italienischem Boden wussten, küssten sie ihn und weinten wie kleine Kinder. In ihren strapazierten Uniformen, abgemagert, mit bleichen Gesichtern gaben sie keinen schönen Anblick. Auch das Aussehen von mir und meiner Schwester war nicht besser.
In Bozen war es noch dunkel. Unser Zug stiess noch dicke Rauchwolken in die Luft. Wir konnten wieder einsteigen. Unser Zugführer wollte noch vor Mittag in Verona sein.
Auch dort wurden wir vom Roten Kreuz betreut. Endlich durften wir uns waschen - als erstes das DDT vom Kopf - so wurde unser Aussehen etwas menschlicher. Zum Essen gab es Teigwaren. Dann wurden wir je nach Richtung verteilt.
In der Zeit, die wir zusammen verbrachten wurden wir fast eine grosse Familie. Jetzt durften wir uns verabschieden und zwar für immer, denn wir hatten voneinander nie wieder etwas gehört.
Drei Wochen hatte unsere Reise in den dunklen Wagen gedauert. Man konnte nur noch Denken und die Zeit zurückschrauben, die ich in Deutschland verbracht hatte. Ich fragte mich, was ich erreicht hatte in den acht Jahren? Zehn Stunden am Tag schwer gearbeitet, zwei Jahre auf Strohsack geschlafen, fast sechs Jahre Krieg erlitten und danach auch noch unsere Ersparnisse verloren durch die Inflation der deutschen Mark. So sind meine schönsten Jahre dahin.
Das Schicksal hat kein Steuerrad, man folgt einfach den Wegen des Lebens. Ich hatte mich nie bedauert. Ich dankte immer dafür, dass ich trotz allem am Leben geblieben war. Millionen Menschen hatten viel mehr geliiten als ich, mussten sogar ihr Leben hingeben ohne Grund, ohne zu wissen warum. Durch verschiedene Situationen hatte ich auch vieles gelernt: Nicht nur die Füsse aus dem Schlamm zu ziehen, auch viel mehr darüber, was man im Leben braucht. Jetzt, in meinem hohen Alter komme ich mir fast vor wie eine Psychologin ohne Studium und ich freue mich, wenn ich hie und da gute Ratschläge geben kann. Ich kenne viel jüngere Leute, die mir noch gerne zuhören.
In Verona angekommen freute mich nicht nur, in Italien angekommen zu sein, sondern auch, dass keiner von uns krank geworden war. Ja sogar das kleine Baby von der Familie, die mit uns tagelang die Stube teilen musste, war nicht krank geworden, nur seine Stimme zum Weinen wurde schwächer. Auch seine kleine Schwester hatte sich tapfer gehalten: Ab und zu drückte sie ihr Köpfchen in den Schoss der Mutter und weinte ganz leise. Wie zwei hatte die Kinder liebgewonnen, versuchten sie zu trösten mit kleinen Märchen. Anderes hatten wir nicht zu geben.
Ich muss schon sagen, unsere Kraft zum Weiterleben glich schon fast einem Wunder und unser Mut dem Zeiger an einem Thermometer: Einmal oben, einmal unten, nur nicht aufgeben. irgendwann kommt schon eine gerade Strecke, nur nicht zu schnell verzagen. Die Schöpfung hatte uns so eine wunderbare Natur erschaffen. Warum sollte man sie nicht Ehren so lange es geht?
Zurück zu unserer Weiterreise: Auf dem Weg nach Piacenza kamen wir zuerst nach Mailand. Wir hatten noch eine lange Strecke vor uns. Unser Fahrer wartete mit seinem Lastwagen auf uns. Es war eine ziemlich verbrauchte Karre, der wir hinten aufsteigen mussten. Nur die Kabine war geschlossen. Den Platz neben dem Fahrer nahm der Doktor aus Turin ein. Mit uns weilten noch drei Soldaten auf dem Wagen. Der Gestank von dem Diesel und alles andere, was sich in mir aufwühlte war mir nicht gut bekommen. Unser Doktor wusste keinen Rat mehr als vor einem Restaurant anhalten zu lassen. Er holte mir ein Gläschen Fernet, wovon mir schon ein wenig besser wurde.
In Mailand angekommen hatte uns der gute Doktor dem Roten Kreuz übergeben. Auf dem Bahnhof hatten wir uns von unseren letzten Kollegen verabschiedet. Ein besonderer Dank galt dem Doktor, der so viel getan hatte für meine Schwester und auch für mich, als wir krank waren. Die anderen drei rannten nach einem Zug, der sie nach Hause bringen sollte: Die grosse Familie war für immer auseinander.
Eine Krankenschwester vom Roten Kreuz hatte sich unser angenommen, Tabletten gegeben und dafür gesorgt, dass wir eine bequeme Heimreise hatten. Damit ich gut liegen konnte, kam nur ein Viehwagen in Frage. Sie hatte sich erkundigt, ob der Zug nach Piacenza fahre und auch dort anhalte. Der Zug war ziemlich lang und nur wir zwei fuhren mit. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde oder einiges mehr, denn er konnte nicht so schnell fahren wie die normalen Züge.
Wir konnten gut liegen, durften aber nicht einschlafen, um unser Endziel nicht zu verpassen. Wir redeten miteinander, um wach zu bleiben, fragten uns, wieviele Soldaten wohl in dem Wagen transportiert wurden während dem Krieg.
Sicher nicht alle waren zurückgekommen. Wir konnten noch von Glück reden: Vieh oder Mensch waren doch heimgekommen. Bis wir ankamen, war es schon Mitternacht. Man hatte uns doch nicht vergessen: Ein Mann kam, öffnete uns die Wagentüre und half uns aussteigen mit unserer Bagage.
Wir wurden immer weitergegeben von einem zum andern wie ein Gepäckstück. Es hatte immer geheissen, dass wir aus Russland kämen und kein Geld hätten. So hatte uns auch der Bahnhofsvorsteher in Piacenza sein Büro zur Verfügung gestellt, damit wir wieder auf unseren Decken am Boden liegen konnten bis am Morgen. Um acht Uhr nahm uns das Postauto mit nach Carpaneto - auch gratis. Der Fahrer hatte auch schon vernommen, woher wir kamen und drückte beide Augen zu: Unser Aussehen sagte genug ohne viele Worte.
Im Dorf hatte sich unsere Ankunft wie der Bisewind verbreitet. Zur Haltestelle kamen Verwandte und Bekannte zur Begrüssung. Da die Kinder schneller laufen konnten, mussten sie die grosse Botschaft unseren Eltern bringen. Auch sie kamen uns entgegen mit ausgebreiteten Armen. Wir weinten alle - aber nicht das gleiche Weinen wie am 4.April 1938, als ich sie verlassen hatte.
Die ersten Tage hatten wir viel zu erzählen. An einem Abend sassen wir vor dem Kamin und starrten in die schwache Glut, wo sich die geschlitzten Kastanien verborgen hielten. Wenn die ersten drei ungeschlitzten voller Wucht aus der Asche knallten war das das Zeichen, dass die anderen gar waren. So konnte man sie herausnehmen. Sie waren soo gut. Und dann noch mit etwas Lambrusco dazu schmeckten sie noch besser.
Plötzlich fragte unser Vater, ob wir noch wussten, in welcher Situation wir uns im Juli 1945 befanden - es war immer noch das Jahr unserer Ankunft. Er erklärte, dass die Mamma ihn jeden Morgen nach seinen Träumen fragte. Da sie kein Lebenszeichen von uns mehr hatten hofften sie, daraus etwas entziffern zu können darüber, ob wir noch lebten oder nicht.
Unser Vater war sehr lieb und sehr feinfühlig: Eines Morgens hatte er zu seiner Filomena gesagt: „Unsere Mädchen leben noch!" Er erinnerte sich, uns in seinem letzten Traum gesehen zu haben. Wir befanden uns in einem Strassengraben eingesunken im Schlamm bis zum Hals, aber unsere Köpfe waren noch frei. Daher meinte er, dass wir noch am Leben seinen. Er hatte recht: Die Schwester war nach vier Wochen Typhus am Ende ihrer Kräfte und ich fing erst an, krank zu werden an der gleichen Krankheit.
Es brauchte Zeit bis ich mich erholen konnte. Es kam mir alles komisch vor in dem kleinen Dorf: Ich fühlte mich eingeengt - es fehlte mir ein Stück Horizont. Sogar der Klang der Glocken von der kleinen Kirche hatte einen ganz wehmütigen Ton. Auch konnten wir nicht lange ohne Arbeit sein. Meine Schwester und ich fassten den Plan, wieder Schneiderinnen zu werden für die Damen - die Mode hatte immer wie ein Magnet gewirkt auf die Weiblichkeit. Unsere Ideen waren nicht schlecht, wir bekamen auch Arbeit, aber die Leute waren noch arm wie vor dem Krieg und zahlten nur mit Lebensmitteln. Es war alles gut und recht, aber ohne Geld konnte man auch nicht durchs Leben gehen. Ich hielt aus bis Juni 1947.
Da in der Schweiz Leute gesucht wurden für die Mitarbeit in Hotelbetrieben meldete ich mich und fand auch eine Stelle im Hotel Post in Meiringen. So nahm ich wieder meinen treuen Begleiter - den Koffer - und war gerne dort gewesen. 1951 hatte ich mich wieder verheiratet mit dem Adolf Fricke und wir hielten uns die Treue bis zu seinem Tod.

Bianca Fricke-Brigati
Bianca Fricke-Brigati (ca.1990)